Der Philosoph
Des Menschen Seele gleicht dem Wasser
Norbert Grob, Die Zeit, 17.02.1989
Das Abenteuer einer märchenhaften Verführung, die nichts erzwingt, aber alles erweckt: Für seinen neuen Film hat Rudolf Thome eines der großen Themen des Kinos gewählt. Drei schöne, weltgewandte Frauen erwachen morgens in fremden Betten. Die eine flüchtet noch vor dem Frühstück. Die zweite greift gelangweilt zu einem Buch. Die dritte kennt noch nicht einmal den Mann, der neben ihr liegt.
Am selben Morgen, in derselben Stadt: Ein schüchterner, etwas ungelenker Mann bedrängt voller Aufregung seinen Briefträger. Das Päckchen, das er erhält, öffnet er erst zu Hause: feierlich, mit zitternden Händen. Es enthält sein erstes Buch: "Die Liebe zur Weisheit. Eine Anleitung zum Denken.
Berlin zwischen Charlottenburg und Kreuzberg: zwei Orte, zwei Welten. Zusammen kommen sie, als Georg, der junge Denker, den Entschluß faßt, sich für eine Lesung neu einzukleiden. In einem exklusiven Herrengeschäft in Kudammnähe sucht er nach einem günstigen Angebot – und, etwas weltfremd, nach einem Mietanzug. Die drei Frauen, Inhaber des Geschäfts, nehmen sich sofort des unkundigen, etwas skurrilen Mannes an. Jede von ihnen sieht etwas in ihm, jede entdeckt neue Ansprüche für ihn. "Was denken Sie über die Liebe?" Seine Antwort: "Dieses Gefühl habe ich seit Jahren nicht mehr empfunden, seit dem Tod meiner Mutter."
Thome und sein Darsteller Johannes Herrschmann haben enorme Kraft und viel Phantasie aufgewendet, um ihren Helden mit besonderen Eigenschaften auszustatten. Diese steifen, unbeholfenen Bewegungen seines Körpers, diese linkische, verschrobene Art und Weise seiner Rede: all das macht seinen ungewöhnlichen Charme aus – und ist zugleich gegen das Selbstverständliche gerichtet, gegen das übliche. Einen so seltsamen Helden hat das Kino bisher nicht gekannt.
Als dieser wundersame Mann ihrer Einladung folgt, scheinen die drei Frauen am Ziel ihrer Wünsche: Wie die Chariten, Göttinnen der Anmut, verwöhnen sie ihren neuen Freund. Martha kümmert sich – wie Aglaia – um den Glanz der Feste, Beate – wie Euphrosyne – um den Frohsinn, Franziska schließlich – wie Thalia – um das Lebensglück.
Der Mann nimmt das Ganze als Wunder, dem nicht zu trauen ist. Über Herklits "Alles fließt" hat er einen wissenschaftlichen Essay geschrieben. Als aber in seinem eigenen Leben alles in Fluß kommt, reagiert er erstaunt, dann zutiefst verstört. Die Frage ist: Muß denn das Glück so fremd sein, wenn man sich glücklich fühlt?
"Wenn hundert Menschen in einem Kino sitzen, gibt es immer ein paar, die alles viel früher begreifen als der Rest. Für die mache ich meine Filme." Das ist von Howard Hawks, Rudolf Thomes amerikanischem Lieblingsregisseur. Es bezeichnet genau die Haltung, mit der "Der Philosoph" gemacht ist. Wie immer inszeniert Thome mit ruhigem, verzögertem Zugriff. Seine Filme fordern, den visuellen Entwurf als vorläufige Skizze zu nehmen, der im Moment des Schauens erst zum eigenen, besonderen Kino-Abenteuer sich formt. Wir Zuschauer müssen komplettieren, wofür die Filme nur erste Umrisse, nur Fragmente bieten. Deshalb ist auch Vorsicht geboten, wenn in diesem Film von überirdischen Dingen die Rede ist, von "Göttinnen", "unsterblichen Zeitagenten" und "Götterboten". Man sollte sich hüten, alles wörtlich zu nehmen, wenn die Bilder ihren Sinn so offen lassen.
Am Ende behauptet eine der Frauen: "Wir sind Göttinnen", und die beiden anderen lächeln dazu. Georgs Antwort: "Ich weiß immer noch nicht, ob ich Euch das glauben kann." Während er dann genüßlich einschläft – im Schoß seiner drei Frauen, "überwältigt von zärtlichen Gefühlen", weiß ich genau, daß ich das nicht glaube. "Einen tief religiösen Film" nennt Thome selbst seinen "Philosoph". Mir kommt er eher vor wie ein bissiges Psychodram mit mystery touch, das sich schließlich als unwahrscheinliches Märchen entpuppt, als Märchen einer geheimnisvollen Verlockung, die in Hingabe endet.
Rudolf Thome gehört weder zu den Malern noch zu den Dramatikern des Kinos. Ihn interessiert weder das schöne Bild noch die spannende Erzählung. Er ist von Anfang an auf Verzauberung aus. Unentwegt irrealisiert er seine Filme – bis in die Gesten seiner Helden, bis in ihre Rede hinein. "Komm, wir fahren nach Marokko in die Sonne. Die macht uns schön und glücklich und zu besseren Menschen", schwindelte schon in der "Roten Sonne" der lässige Hallodri sich in eine Traumwelt.
Was an Thomes "Philosoph" dennoch erstaunt, ist die Sicht auf Berlin. Diese nervöse Stadt aus verstopften Straßen und verschmutzter Luft erscheint plötzlich als Ort der Ruhe: als Stadt des Wassers – überall Kanäle, Flüsse Seen. Die Wohnung der Frauen liegt direkt an der Spree. Auf einem Bootssteg schreibt Georg seinen Liebesbrief. Bei einer Bootsfahrt fällt er in den Schlachtensee und wird von Franziska gerettet. Am Wannsee gehen sie später spazieren, während die Wellen sanft ans sandige Ufer schwappen.
Das Wasser bildet das geheime Zentrum des Films. Es ist allerdings nicht als Symbol für Reinigung oder Auflösung genommen, sondern als Quelle der Erneuerung und der Vereinigung. Gefühle strömen, wogen hin und her, brausen auf. Die Helden tauchen ein in Unbekanntes, wirbeln, gleiten, versenken sich ineinander. Seinen Protagonisten weist Thome verschiedene Wasserformen zu: dem Mann den ruhenden See, den Frauen die fließende Spree. Dafür hat er natürlich – wie oft schon – von Goethe gelernt: "Des Menschen Seele / Gleicht dem Wasser."
Eine Einschränkung zum Schluß: So wunderbar einfach und offensichtlich dieser Film über weite Strecken ist, so aufregend genau und unergründlich zugleich – gegen Ende häufen sich leider die erklärenden Dialoge. Als müsste nun doch alles drei-, viermal gesagt werden. Dabei sollte doch gerade Thome wissen, daß etwas weniger immer sehr viel mehr ist.
© Norbert Grob