Starke Dokumentarfilme stehen neben persönlichen Essays, Spielfilme treten mal mit entschlacktem Plot, mal mit einem Herz fürs Absurde an: Die 28 Filme, die im Hauptprogramm des 53. Berlinale Forums laufen, feiern die Vielfalt kinematografischer Formen, Mittel und Erzählweisen und blicken den Untiefen der Gegenwart sowie der Vergangenheit unerschrocken ins Auge.
Eine Teenagerin sitzt im Sprechzimmer, die Kamera filmt sie von hinten, sie bleibt anonym. Der Ärztin erzählt sie, wie sie schwanger wurde: Ihr Freund habe versichert, er passe auf. Nun hat sie eine schwierige Entscheidung zu treffen. Wie sehr sie damit hadert, wie verunsichert sie ist, ist in jedem ihrer Sätze spürbar. Und vom Freund keine Spur.
Diese Szene ist eine der ersten in Claire Simons beeindruckendem Dokumentarfilm "Notre corps" ("Our Body"). Mit behutsamem Blick schaut sich die französische Regisseurin in einer gynäkologischen Klinik in Paris um; sie trägt Szenen von Geburten und Krebsdiagnosen, von Beratungsgesprächen zu Endometriose und zu Hormontherapie zusammen. Was dabei entsteht, ist ein zunächst beobachtender, später immer persönlicherer Film über das, was es bedeutet, in einem weiblichen Körper zu leben. Zugleich ist er ein wunderbares Beispiel für die Stärke dokumentarischen Kinos. "Notre corps" bündelt Erfahrungen, von denen man glaubt, man sei damit alleine; er macht Strukturen sichtbar, wo man Nöte für individuell hält; er legt dar, wie sehr Dinge, über die man sich nicht zu sprechen traut, eine gesellschaftliche Dimension haben und diskutiert werden müssen.
Simons Film ist nicht der einzige im Programm des diesjährigen Berlinale Forums, der diese Stärke hat. Der iranische, in Paris lebende Filmemacher Mehran Tamadon bittet Bekannte, die in Iran im Gefängnis saßen, darum, ihre Erlebnisse in einem leeren Lagerhaus zu rekonstruieren; mit "Jaii keh khoda nist" ("Where God Is Not") gelingen ihm tiefe Einblicke in die Funktionsweisen eines repressiven Regimes. Der argentinische Regisseur Ulises de la Orden wählt andere Mittel, nämlich die Montage von Original-Video-Footage, und kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: Auch "El juicio" ("The Trial") bietet ein erschütterndes Zeugnis von den Methoden staatlichen Terrors. Den Alltag im Kriegszustand registriert "W Ukrainie" ("In Ukraine") von Tomasz Wolski und Piotr Pawlus. Die beiden polnischen Regisseure verzichten auf Dramatisierung und Dringlichkeits-Pathos; die Wirkung, die der Film aus seiner Nüchternheit gewinnt, ist umso nachhaltiger.
Die Spielfilme des 53. Berlinale Forums lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen: Zum einen gibt es die, die ihre Narrationen entschlacken, dramatische Wendungen umgehen und der Ruhe von Kamera und Montage eine große Rolle beimessen, zum anderen die, deren Herz fürs Absurde schlägt. Zu diesen gehört Melisa Liebenthals sanfte Komödie "El rostro de la medusa" ("The Face of the Jellyfish"), in der eine junge Frau ganz buchstäblich einen Gesichtsverlust erleidet und sich fortan viele Fragen zu Identität, Selfies und biometrischen Verfahren stellt. Zu jenen zählt der japanische Spielfilm "Subete no Yoru wo Omoidasu" ("Remembering Every Night") von Yui Kiyohara, der drei Frauen in einer Vorstadt bei ihren Alltagsdingen zuschaut – ein Film wie ein Sommertag, hell, freundlich und manchmal wie von kühlem Wind durchweht.
Essayistische Filme geben dem Forum schließlich seine besondere, unverwechselbare Gestalt: Viera Čákanyová macht sich in "Poznámky z Eremocénu" ("Notes from Eremocene") Gedanken zum kommenden Erdzeitalter und umarmt dabei die Möglichkeiten digitaler Scan-Technik. Vincent Dieutre reist in "This Is the End" nach Los Angeles und lässt sich, aller Kulturkritik zum Trotz, leidenschaftlich auf die leere Stadt, auf deren begriffsgeschichtliche Kraftfelder und auf einen Lover aus der Vergangenheit ein. Auch "Allensworth" von James Benning erkundet einen Ort in Kalifornien. Wo heute leere Landschaft, viel Himmel, Holzscheunen und ein paar Wohnhäuser zu sehen sind, befand sich Anfang des 20. Jahrhunderts ein Zentrum afroamerikanischer Emanzipation. Deren Erbe spürt der Regisseur in zwölf langen, den Kalendermonaten zugeordneten Einstellungen nach. Hier wie in anderen essayistischen Arbeiten zeigt sich, wie gut das Kino und die Reflexion zusammenpassen: Das Denken braucht die Bilder, so wie die Bilder das Denken brauchen.
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Quelle: www.berlinale.de