Jahrgang 45
Scharfsichtige Wachträume
Rolf Richter, Filmspiegel, Berlin, Nr. 1, 1991
"Jahrgang 45" wirkt auf mich wie ein scharfsichtiger Wachtraum, wie eine Erinnerung, deren Genauigkeit ich bereit bin zu beschwören. Zudem erlebe ich Bilder, wie ich sie vom Film erwarte und sofort in mein Leben hineinnehme, die ich mir mit einer Selbstverständlichkeit aneigne, so wie man am Morgen den Himmel über sich als den eigenen Himmel nimmt, die Straßen als eigene Straßen und den scharfen, würzigen Geruch, der vom Pflaster aufsteigt, als den Geruch, den man gerade braucht, um munter zu werden. Ich sehe manchmal, wenn ich von diesem Film so überschwänglich spreche, mißtrauische Blicke, aber ich übertreibe nicht, das ist mein Film. Da tritt am Anfang ein junger Mann auf den Balkon, sieht lange hinüber auf andere Häuser, auf Mauern, auf Bäume. Das ist der Prenzlauer Berg, in dem ich gelebt habe und lebe, grau, aber immer auch irgendwie grün wie die Bäume, die hier zum Trotz auf engstem Raum wachsen. (…) Dieser Film ist wirklich eine Art Ballett, mit dem Unsagbares erfaßt wird. Es gibt wunderschöne Arrangements. Der Tanz mit der Feder etwa, eine Elegie über Zärtlichkeit, die den Wunsch enthält fortzufliegen, sich aufzulösen, und wenn es nicht anders geht, zu explodieren, um danach etwas ganz anderes zu machen. Der Schauspieler Rolf Römer hat in seinem Spiel eine verblüffende Verbindung von Understatement und großartiger, ja schamloser Übertreibung, in der eben das Unausdrückbare der Zukunft klar hervortritt. Und der Regisseur Jürgen Böttcher führt ihn in Situationen und Räume, die auf eleganteste Art gegen das Eingeschlossensein, den Frust, die Verbitterung protestieren, die der Gestalt die Sehnsucht nach etwas anderem, Freiheitlicherem, zubilligen. Die Naivität dieses Spiels, die Sicherheit der Kamerabewegungen und -ausschnitte ist umwerfend. Der Alltag erscheint in seiner Macht und Trivialität, als Bewegungsraum, in dem wir uns erfahren und entwickeln, wo wir uns in endlosen Wiederholungen und Ausbruchsversuchen festlegen. Der Film ist Momentaufnahme und Entschlüsselung und in seinen aufregenden Mitteilungen über die vielen Versuche, nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren, sich zu verbünden, sich zu wehren, sich kennenzulernen, tastend, ohne Eile. Zeit ist hier Indiz für die Suche nach einem anderen Rhythmus. Die Instrumente des Regisseurs sind empfindsame Fühler, er stellt keine Professionalität aus, sondern nimmt sich für sein Spiel mit dem "Es kommt so, aber es könnte auch anders kommen" Zeit. Das ist seine kreative Art zu protestieren. Der Film wird so zum Zeichen, ein Angebot zum Sehen. Böttcher war 34, als er diesen Film drehte, er war ein Regisseur und Maler, der seine Begabung bewiesen hatte. Der Film wurde nicht aufgeführt. 1990 endlich auf der Leinwand, ist er eine der aufschlußreichsten Erinnerungen an das Leben jener, die in den sechziger Jahren jung waren, ein prophetisches Dokument, das sich nicht nur jene, die sich für die Kunst dieser Zeit interessieren, ansehen sollten.