Die tödliche Maria
Was für ein Frauenleben
Helmut Schmitz, Frankfurter Rundschau, 31.03.1994
Ein Leben wie unter dem Glassturz, ein Film wie mit dem Makro-Objektiv gedreht, bedrängend nah, riesig vergrößernd, keine Distanz. Die Kleineleute-Wohnung in den Babelsberger Studios minutiös nachgebaut, zeitloser 50er-Jahre-Muff. Die Kamera hat Zutritt, wo der Mensch sonst nicht hinkommt und hinschaut; von allen Seiten umkreist, belauert sie Maria. Deren Ohr umspült ein schizophrenes Gewisper, über ihr Gesicht kriecht eine kalte Furcht, die Pupillen beginnen sich zu weiten, der Blick irrt wie ein Suchscheinwerfer umher, prallt an den Stubenwänden ab.
Ein lastender, bedrückender, ein klaustrophobischer Film. Um so erstaunlicher, daß Maria auch ganz anders auf ihre Umgebung reagiert, sorglich, fast liebevoll, manchmal gar ein Lächeln auf dem verschlossenen, intelligenten, hellhäutigen Gesicht. Es gilt dem Vater, der halbgelähmt im Bett liegt und mit seiner Hilflosigkeit die Tochter quält. Ein Mann, der – so zeigen die mählich einsetzenden und dann sich drängenden Rückblenden – nie gelernt hat, mit seinen Gefühlen umzugehen, gar sich zu öffnen. Niemals lächelt Maria bei ihrem Mann. Der sieht in ihr das Stubenmädchen, welches pünktlich das Essen auf den Tisch zu stellen und im Bett bereitzuliegen hat. Der Mann haust unten, der Vater oben, beide rufen "Maria", und sie hat sich zu sputen. Von unten nach oben führt eine dunkle Stiege, wenn die Tür zu ihr aufgeht, kommen Geräusche wie aus einem Unterwassertunnel.
Der Tonspur misst der Film "Die blutige Maria" ebenso große Bedeutung bei wie dem Bild; wenn es schon ein Geruchskino gäbe, dann wären die Düfte und der Gestank, die Gleichgültigkeit und der Haß mit der Nase nachzuschmecken. Auch so glaubt man die emotionale Vereisung, die stille Verzweiflung – und die unglaubliche Kraft der Lebensbehauptung dieser Frau mit allen Sinnen aufzunehmen. Tom Tykwer hat einen Film gemacht, der alle Wahrnehmungsorgane anspricht, anspringt, malträtiert, herausfordert. Der Achtundzwanzigjährige mit Film- und Theatererfahrung nimmt das wohlfeile Branchengeschwätz von der emotionalen Kraft des Kinos beim Wort. Er hält eine beeindruckende kinematographische Rede, deren Ton- und Bildrhetorik sich radikal dessen bemächtigt, wovon sie berichtet.
Ein Frauenleben: Die Mutter stirbt bei Marias Geburt, der Vater zieht sie auf als töchterliche Dienstmagd. Ihn trifft der Schlag, als er sieht, wie Maria einen früheren Schulkameraden küsst, es ist das erste Mal. Nun hat sie der Vater als Pflegerin ganz an sich gefesselt, und er kettet sie auch noch an, indem er sie einem seiner Kartenspielkumpane zur Frau gibt: Du heiratest den, mir zuliebe. So ist das Leben dieser Frau eine ununterbrochene Unterwerfung unter den männlichen Willen. Das Lebhafteste in diesem totgestellten Leben, die einzigen Gäste von draußen, das sind die Stubenfliegen und Küchenschaben; die schlägt Maria tot und sammelt sie.
Und sie schreibt seit je tagebuchähnliche Briefe an Fomino, ihr Lieblingsspielzeug, eine afrikanische Holzfigur von unverkennbar phallischem Zuschnitt. Die Briefe wirft sie durch einen Schlitz in einen Wandschrank, und als sie den nach Jahrzehnten aufbricht, bricht die Vergangenheit in einer papierenen Flut in die Gegenwart herein. Jetzt öffnen sich die Schleusen der Selbstwahrnehmung, nun dämmert Maria, was mit ihr geschehen ist und geschieht. Sie öffnet die Umschläge und liest, es setzen Rückblenden ein, brutal und kurios schließt dann ein zähnebleckender Zickzackvorhang ritsch, ratsch quer übers Bild, der energische Stilwille des Filmemachers bedient sich hier zu Abwechslung einmal der Comic Sprache.
Tom Tykwer lässt den Zuschauern viel Zeit, sich das Ihre zu denken, bevor er kaleidoskopartig Marias Geschichte zusammensetzt. Daß nicht alle Visualisierungen gleichermaßen geglückt sind, versteht sich von selbst. Daß die Liebesgeschichte mit dem kontaktscheuen, in die katalogisierende Arbeit an einem monströsen Corpus alphabeticum buchwurmartig verkrochenen Nachbarn Marias Entpuppung aus dem gräulichen Männerverlies beschleunigt, mag in manchem anzweifelbar sein. Wann jedoch verläßt man einen deutschen Film mit Gefühl, etwas gesehen zu haben, das man nicht missen möchte?
Buch, Musik, Regie also: Tom Tykwer. Und die Rollen ideal besetzt. Peter Franke bringt seiner Ehefrau das Interesse entgegen, das er für eine Spülmaschine aufbringt. Funktioniert sie nicht wie gewohnt, ist jeden Augenblick ein Faustschlag zu erwarten. Er bleibt aus, der Tonfall schwingt die Faust. Josef Bierbichler lastet schwerleibig auf der Tochter, zwischen den halbgelähmt hängenden Lippen blubbern die Vorwürfe wie heißes Blei hervor. Joachim Król lässt beim sanftäugig softenden Nachbarn eine Option auf späteren Beziehungsterror offen.
Die Maria ist je nach Lebensalter besetzt, dreifach. Die zwanzigjährige Katja Studt gibt wunderbar mädchenhaft, in noch neugieriger Ergebenheit die mittlere , deren Aufbruch ins Leben ihm ehemals elterlichen Bett zerschellt. Die Maria der gegenwärtigen Erzählzeit ist Nina Petri, 30 Jahre alt und wie noch mal soviel an gestohlener Lebenszeit als Bleigewichte am gleichwohl aufrechten Körper mit sich schleppend. Ein Wunder, daß in dieser Männerdürre die Seele nicht vertrocknet ist, Maria ihre vernichtende Zurichtung übersteht; ein Wunder darüber streicht bisweilen über Nina Petris Antlitz, in dem Frank Griebes Kamera alles findet, was sie nur sucht.
Befremdlich, töricht an diesem bemerkenswerten Film: sein Titel. Kaum anzunehmen, daß er dem ZDF anzulasten ist, das ihn als "Kleines Fernsehspiel" mitproduziert hat. Es scheint ein Missgriff des Urhebers zu sein. Sein einziger.