Otto - Der neue Film
Bildermüll
Andreas Kilb, Die Zeit, 24.07.1987
Eduard – so nennen wir einen Mann im vorgerückten Jünglingsalter, der in den Stunden nach Büroschluß, zwischen der heute-Sendung und der Tagesschau, gelegentlich von einem lähmenden Welt- und Fernsehüberdruß heimgesucht wird und sich nach Möglichkeiten umsieht, der vierzehnarmigen Krake des Kabelprogramms mit ihren Serien-Saugnäpfen, ihrer Videoclip-Tinte und dem süßen Gift der Klassiker-Wiederholungen zu entrinnen – Eduard also bekommt an einem lauen Juliabend Lust, ins Kino zu gehen.
Im Filmtheater um die Ecke stehen die Leute Schlange. Was wird da geboten? Ein neuer "Terminator", Exekutor, Massakrator aus Amerika? Nein, es gibt deutsche Kost: "Otto – der neue Film". Otto? Den kennt Eduard aus dem Fernsehen, die letzte Otto-Show und den ersten Otto-Film hat er glücklich vermieden, und auch der neue "Otto" lockt ihn nicht. Eduard möchte im Kino etwas erleben, das das Femsehen nicht ersetzen kann: Geschichten, in denen die Welt so fremd wirkt wie im Traum, den Zweikampf der Blicke, den Sturz ins Dunkel der Phantasie. In irgendeinem Kino, denkt Eduard, wird der Film laufen, den er sucht.
Aber auch im nächsten Lichtspiel-Center, zwei Straßen weiter, erwartet ihn "Otto – der neue Film". Wohin er sich auch wendet, stets ist das bucklicht" Männlein da und fängt gleich an zu feixen. Vier U-Bahnstationen und drei Kinos weiter steht Eduard vor der Breitwand-Burg im Zentrum der Stadt. "Kino I: "Otto – der neue Film"" Die Schwüle des Sommerabends wird immer drückender. Eduard ist verzweifelt, und in seiner Verzweiflung macht er einen Fehler: Er geht ins Kino. Zu Otto.
"Wo bleibt das Bild?" sagt jemand, als die Leinwand hell wird. Sieben Muskelprotze bewerben sich als Leibwächter für "Amboss, den Rabiator", den neuen amerikanischen Superstar. Einer hat anstelle von Schwellkörpern nur Luftballons und Papier unter der Jacke. "Merken Sie sich dieses Gesicht!" ruft er, als er rausgeworfen wird. Als hätten wir nicht längst gemerkt, daß das Kerlchen unser Otto ist.
So beginnt "Otto – der neue Film". Und so geht es weiter. Klein Otto muß sich als bankrotter Mieter mit einem starkdeutschen Hausmeister herumschlagen, er darf dessen Töchterlein knuddeln und den Hund Gassi führen, jagt der blöden Blondine Gabi Drösel hinterher und triumphiert am Ende sogar über Amboss, den Rabiator. Dazwischen hüpft er drollig durch die Gegend, lenkt unser Augenmerk diskret auf die Spitzenprodukte diverser Waschmaschinen-, Jeans- und Zigarettenhersteller und singt ein kleines Lied: "Wer ist euer bester Freund? Wer hat"s immer gut mit euch gemeint? Otto, Otto!"
Das ist alles. Otto, der Ventilator: Sein laues Lüftchen treibt Eduard hinaus in die Julinacht, lange vor dem Happy-End. "Gehn wir jetzt, Otto?" fragt des Hausmeisters Tochter. Wir gehen!
Draußen vor dem Kino schwankt Eduard zwischen Wut und Langeweile. Er weiß, woher er dieses Gefühl kennt: aus dem Fernsehen. Nachträglich fällt ihm auf, daß "Otto – der neue Film" fast nur aus Szenen im Bildschirm-Format besteht. Kino, das bedeutet Ausblicke, Umgebungen, Landschaften, durch die sich die Menschen bewegen. Der Otto-Film aber zeigt nur Otto-Bilder, so wie in einem Schimanski-Film nur Schimanski, in einem Mike-Krüger-Film nur Mike Krüger zu sehen ist. Das neue deutsche Kassenkino ist reines Fernsehen. Nur das Publikum hat noch nicht bemerkt, daß die Filme, die man ihm vorsetzt, gar keine Filme sind, sondern ein Flickwerk aus Sketchen, Anekdoten und kleinen Szenenschnipseln, voll von toten, leeren Bildern.
Später liest Eduard in der Zeitung, daß "Otto – der neue Film" mit 420 Kopien in die Kinos kam, daß dieser Nicht-Film auf so vielen Leinwänden gleichzeitig gezeigt wird wie noch kein anderer Film in Deutschland. Er liest, daß es fast sechs Millionen Mark gekostet hat, den Regisseur Xaver Schwarzenberger und die Satiriker Gemhart, Eilert und Knorr aufs unterste Niveau, auf Otto-Niveau zu drücken. "Otto – der neue Film" ist purer Bildermüll, nach dem Atomabfall der teuerste Dreck der Welt.
An diesem Abend kehrt Eduard dem Kino den Rücken. Die Kabelprogramme bringen sowieso alles, was sein Auge begehrt: Bertolucci-Werkschauen, Tarkowskij-Retrospektiven, Filme von Eric Rohmer und Billy Wilder, Ciminos "Heaven"s Gate" und Fassbinders "Querelle". Draußen regiert das Fernsehen die Leinwände, nur hier, im Fernsehen, gibt es noch Kino - im Kleinformat. Auf den Bildschirmen stirbt es einen langen und schönen Tod. Bald liegt es endgültig in der Cassettengruft. Dann werden wir unsere Erinnerungen vermessen können: fünfzig mal vierzig Zentimeter für ein Bild. Im Einzelfall mehr. Dann wird an der Straßenecke "Otto – der allerneueste Film" laufen. Die Kids werden hinrennen und behaupten, im Kino gewesen zu sein.
© Andreas Kilb