Mit 28 Welt- und acht internationalen Premieren aus allen Kontinenten gibt das Forum der Berlinale auch im 44. Jahr seines Bestehens einen Überblick über das unabhängige, künstlerische Filmschaffen jenseits aller Konventionen.
Ein originelles Doppel ist der Schauspielerin Josephine Decker gelungen, die im Forum nicht nur ihr Regiedebüt "Butter on the Latch" zeigt, in dem zwei Freundinnen in den kalifornischen Wäldern unheimliche Grenzerfahrungen machen, sondern auch ihren zweiten Spielfilm "Thou Wast Mild and Lovely", eine düstere Liebesgeschichte auf einer Farm im ländlichen Kentucky, die in einer Katastrophe mündet.
In einem Dorf in Mexiko spielt die deutsche Produktion "Los Ángeles" von Damian John Harper. Das kraftvolle Regiedebüt erzählt von einem jungen Mann, dessen Ziel Los Angeles in immer weitere Ferne rückt, als er sich mit lokalen Gangstern anlegt, auf deren Unterstützung er gebaut hat, und gegen die fast selbstverständlichen Gewaltstrukturen aufbegehrt.
Eine ungewöhnliche Form hat der bekannte rumänische Regisseur Corneliu Porumboiu für seinen Film "Al doilea joc" ("The Second Game") gefunden: Gemeinsam mit seinem Vater, der zur Zeit des Ceausescu-Regimes Fußball-Schiedsrichter war, kommentiert er die verrauschte VHS-Kassette einer Partie zwischen den Top-Mannschaften Dinamo und Steaua. Während das Spiel im Schnee steckenzubleiben droht, stellt sich der Zuschauer die Frage, wie ein Unparteiischer in einem Einparteienstaat bestehen konnte.
Werke meist junger Filmemacher aus Osteuropa bilden einen geografischen Schwerpunkt des diesjährigen Programms. Der Este Veiko Õunpuu porträtiert in dem komisch-melancholischen Spielfilm "Free Range – Ballaad maailma heakskiitmisest" einen jungen Mann, der zwischen dem Traum, für die Kunst zu leben, und den Anforderungen des Alltags nach einem Zustand der Schwerelosigkeit strebt.
Im Mittelpunkt des polnischen Dokumentarspielfilms "Huba" ("Parasite") von Anka und Wilhelm Sasnal steht ein alter Mann, gezeichnet von der lebenslangen Arbeit in der Fabrik. Seine Tochter, allein mit ihrem Säugling, zieht bei ihm ein. Der Film erzählt vom Zurückgeworfensein auf die nackte Existenz, von Enge, Fremdheit, Nähe und von Körpern – am Beginn eines Lebens, am Ende, und irgendwo dazwischen.
Ein Spielfilmdebüt ist "Chilla" ("40 Days of Silence") von Saodat Ismailova. Die junge usbekische Regisseurin erzählt von Bibicha, die sich ins Haus ihrer Großmutter zurückzieht, um dem traditionellen Schweigegelübde zu folgen. Zwischen der kargen Landschaft und farbenfrohen Innenräumen schildert der Film ihren steinigen Weg in die Selbstbestimmung.
Zu den Themen, die sich in Filmen des Forumsprogramms 2014 finden, gehören Arbeitswelten und die in wirtschaftlich instabilen Zeiten verschärften Klassenverhältnisse. Auf verschiedenste Weisen setzen sich Filmemacher aus aller Welt mit den Konsequenzen dieser Zuspitzung für das Individuum auseinander.
So erzählt Athanasios Karanikolas in seinem Spielfilm "Sto spiti" ("At Home") in eleganten Bildkompositionen von einer georgischen Haushälterin, die von ihren langjährigen Arbeitgebern in einer sonnigen Villa in Griechenland ins Abseits gedrängt wird, als deren Geschäfte nicht mehr gut gehen und bei ihr plötzlich eine schwere Krankheit diagnostiziert wird.
In dem japanischen Spielfilmdebüt "Forma" von Ayumi Sakamoto geht es um zwei Schulfreundinnen, die getrennte Wege gegangen sind. Ayako, die Karriere in ihrer Firma gemacht hat, bietet Yukari, welche sich mit Gelegenheitsarbeiten durchgeschlagen hat, eine Stelle an. Fortan spielen die Freundinnen Chefin und Untergebene, und ihre Unterschiede treten immer stärker zu Tage.
Ein weiteres Regiedebüt ist der ausgefallene US-Spielfilm "She's Lost Control" der deutschen Regisseurin Anja Marquardt, in dessen Mittelpunkt eine Therapeutin steht, die ihren Kunden beizubringen sucht, was diese am meisten fürchten – den Körperkontakt. Ihre Beziehung zu einem neuen Patienten stellt die Abgrenzung von professioneller und privater Intimität unbarmherzig in Frage.
Den Tollheiten des Kulturbetriebs widmen sich mehrere Filme des Programms, oft in gebührend komödiantischer Form. In Max Linz' Spielfilmdebüt "Ich will mich nicht künstlich aufregen" kämpft eine junge Berliner Kuratorin mit Stil, Charme und Theorie für ihr neues Projekt, gerät durch ein selbstkritisches Interview jedoch in arge Schwierigkeiten. Vergnüglich reflektiert der Film aktuelle Diskurse und Formen von der Fernsehsoap bis zur Videoinstallation.
Der französische Regisseur Guillaume Nicloux wiederum lässt in "L'enlèvement de Michel Houellebecq" ("The Kidnapping of Michel Houellebecq") den kontroversen Schriftsteller Michel Houellebecq von bulligen Gangstern kidnappen und in der Hoffnung auf Lösegeld tagelang in einem Haus im Pariser Umland festhalten. Doch statt Widerstand zu leisten, scheint dieser über den Zwangsurlaub vom arbeitsreichen Prominentendasein nicht unglücklich und freundet sich schnell mit seinen treuherzigen Entführern an.
Ein besonderes Ereignis dürfte die Aufführung von Ken Jacobs' "The Guests" werden. Der Nestor des Expanded Cinema hat einen einminütigen Film aus der Frühzeit des Kinos zum vermutlich ersten schwarzweißen Stummfilm in 3D-Technik digital nachbearbeitet. Auf 70 Minuten gedehnt, sehen wir einer Gruppe von Kirchgängern auf der Treppe eines Pariser Gotteshauses zu und richten unsere Aufmerksamkeit auf kleinste Details.
Die diesjährigen Special Screenings werden in einer weiteren Pressemitteilung bekannt gegeben.
Die Filme des 44. Forums:
"The Airstrip" von Heinz Emigholz, Deutschland - WP
"Al doilea joc" ("The Second Game") von Corneliu Porumboiu, Rumänien - WP
"Le beau danger" von René Frölke, Deutschland / Italien - WP
"Butter on the Latch" von Josephine Decker, USA - WP
"Casse" ("Scrap Yard") von Nadège Trebal, Frankreich - IP
"Castanha" von Davi Pretto, Brasilien - WP
"Cheol-ae-kum" ("A Dream of Iron") von Kelvin Kyung Kun Park, Republik Korea / USA - WP
"Chilla" ("40 Days of Silence") von Saodat Ismailova, Usbekistan / Tadschikistan / Niederlande / Deutschland / Frankreich - WP
"The Darkside" von Warwick Thornton, Australien - IP
"L'enlèvement de Michel Houellebecq" ("The Kidnapping of Michel Houellebecq") von Guillaume Nicloux, Frankreich - WP
"Forma" von Ayumi Sakamoto, Japan - IP
"Free Range – Ballaad maailma heakskiitmisest" ("Free Range") von Veiko Õunpuu, Estland - IP
"Das große Museum" von Johannes Holzhausen, Österreich - WP
"The Guests" von Ken Jacobs, USA - WP
"Gui ri zi" ("Shadow Days") von Zhao Dayong, China / Hongkong - WP
"Huba" ("Parasite") von Anka Sasnal, Wilhelm Sasnal, Polen / Großbritannien - WP
"Ich will mich nicht künstlich aufregen" von Max Linz, Deutschland - WP
"Iranien" ("Iranian") von Mehran Tamadon, Frankreich / Schweiz - WP
"Kumiko, the Treasure Hunter" von David Zellner, USA - IP
"Kumun tadı" ("Seaburners") von Melisa Önel, Türkei - WP
"Lajwanti" ("The Honour Keeper") von Pushpendra Singh, Indien - WP
"Los Ángeles" von Damian John Harper, Deutschland / Mexiko - WP
"La marche à suivre" ("Guidelines") von Jean-François Caissy, Kanada - WP
"N - The Madness of Reason" von Peter Krüger, Belgien / Deutschland / Niederlande - WP
"Nagima" von Zhanna Issabayeva, Kasachstan
"Non-fiction Diary" von Jung Yoon-suk, Republik Korea - IP
"Pădurea e ca muntele, vezi?" ("The Forest is Like the Mountains") von Christiane Schmidt, Didier Guillian, Rumänien / Deutschland - WP
"Que ta joie demeure" ("Joy of Man's Desiring") von Denis Côté, Kanada - WP
"Shemtkhveviti paemnebi" ("Blind Dates") von Levan Koguashvili, Georgien
"She's Lost Control" von Anja Marquardt, USA - WP
"Ship bun" ("10 Minutes") von Lee Yong-seung, Republik Korea - IP
"Souvenir" von André Siegers, Deutschland - WP
"Sto spiti" ("At Home") von Athanasios Karanikolas, Griechenland / Deutschland - WP
"Thou Wast Mild and Lovely" von Josephine Decker, USA - WP
"To Singapore, With Love" von Tan Pin Pin, Singapur
"Töchter" von Maria Speth, Deutschland - WP
"Top Girl oder la déformation professionnelle" von Tatjana Turanskyj, Deutschland - WP
"Und in der Mitte, da sind wir" von Sebastian Brameshuber, Österreich - WP
"Zamatoví teroristi" (Velvet Terrorists) von Ivan Ostrochovský, Pavol Pekarčík, Peter Kerekes, Slowakei / Tschechien / Kroatien - IP
(WP = Weltpremiere, IP = Internationale Premiere)
Quelle: www.berlinale.de