Walter Muschg: Filmzauber

 

Zwischen Berlin und Potsdam liegen einige der größten deutschen Filmwerkstätten, und wie echt ägyptisch oder indisch sich nachher der Film gebärden mag, da draußen wurde er gemimt mit ungeheurem Aufwand an Maskeraden und Attrappen. Ob zwischen der Kargheit des Bodens und der hemmungslosen Ausschweifung eines auf den Siedepunkt gebrachten Spekulantenhirns ein Zusammenhang besteht? So viel ist sicher: gerade in dieser Umgebung, eine halbe Bahnstunde von der Börse, steht der Umriß eines schier wahnwitzigen Unterfangens mit unvergeßlicher Grimasse gegen den herb verschlossenen Himmel. Der tollste Einfall wird hier bereitwillig in eine gespenstische Art von Realität und Leben umgesetzt, und solch unwahrscheinliche, zehnfach verdrehte Überspanntheit zwischen Einfall und Durchführung ist das eigentliche Geheimnis dieses unaufhaltsamen Zaubers.

Hinter den scharf bewachten vielfachen Zäunen ist alles eine Welt für sich, und was für eine Welt: man wandert zwischen unabsehbaren Magazinen und fieberhaft betriebenen Werkstätten fast jedes Berufszweiges an den gläsernen Ateliers vorbei nach dem magisch lockenden Kernpunkt der Phantastik: der Filmstadt. In ihren labyrinthisch verschachtelten Straßen, Plätzen und Revieren beginnt den Laien nach einer ersten Weile rastlosen Gaffens ein Etwas in der Kehle zu würgen; er nimmt's zunächst für den Widerstreit zwischen dem Entzücken über ein altdeutsches Architekturbild oder eine wundervolle Nachbildung des Breslauer Rathauses und der Spottlust über einen allzu offenbaren Schwindel, wenn sich ein Indianerdorf mit der Rückseite als pompöser Barockpalast darstellt. Schließlich aber begreift er besser, was er fühlt: er kommt nicht über das groteske Mißverhältnis zwischen solchen Massen und dem unscheinbaren Format der Aufnahme selbst hinweg, die das schließliche Resultat so anspruchsvoller Vorbereitung ist. Unbeirrt bleibt bloß der Respekt vor der unverkennbaren Routine der Farbengebung. Eine für Nachtaufnahmen hergestellte Felspartie nimmt sich im Tageslicht mit violetten, zinnobrigen und giftgrünen Tönen unmöglich aus, ergibt aber bei Scheinwerferbeleuchtung einen glänzenden, genau berechneten Effekt; und da auch bei Tagesaufnahmen das künstliche Licht herbeigezogen, nämlich ein ganzer Wagenpark von Lichtanlagen jedesmal aufs Feld hinausgefahren wird, fehlt es nirgends am imaginären Lokalton. Man bemerkt übrigens sofort, wie günstig sich diesem grenzenlos vielgestaltigen Bild der märkische Sandboden einfügt: seine harten, spärlich im Winde zitternden Halme sind jederzeit Heide und Wildwest, vertraute und fremde Gegend, ein höchst neutrales Requisit.

Und nun denke man sich diese Welt als Schauplatz einer Massenaufnahme. An einem sonnigen Tag wimmeln hier Hunderte von Arbeitern und Komparsen; Autos rattern; vor den Kantinen schlingt ein ganzer Maskenball von Kostümierten und für lange Stunden in Schminke Begrabenen eine halbe Mahlzeit hinunter, und irgendwo weit hinten, kaum sichtbar vor dem dichten Gelaufe, bewegt es sich kompakter, bunter und lauter, wird durch Rohre geschrien und bis zur Ermattung dasselbe Handlungselement wiederholt. An der nächsten Ecke leert ein Kreuzfahrer hoch zu Roß die fünfte Bierflasche, Neger lümmeln gelangweilt an den Wänden herum, zwei Drückeberger vertreiben sich die Zeit mit Boxversuchen - und all das ist aus Berlin herübergekommen, um sich selbst und der Welt wer weiß was vorzumachen. Ist das Wetter günstig und alles endlich einmal beisammen, dann wird der Tag aufs äußerste ausgenützt; der Regisseur, schweißtriefend, zieht eine Bratwurst nach der andern aus der Rocktasche, die Solisten ergeben sich stumpf darein, die Probe an ihrer Bühne zu schwänzen, und das murrende Heer der Namenlosen sucht sich am Gedanken an den Überstundenlohn zu erfrischen. Kein Zweifel: die raffinierte Ausbeutung und Beherrschung des Materials ist ein Grundtrieb des Films. Genaue Beobachtung im Kinotheater müßte zu der Entdeckung führen, die hinter den Kulissen als Voraussetzung ohne weiteres in die Augen springt: daß man auch im luxuriösesten Großfilm ein kaum glaubliches Minimum von Ausstattung zu sehen bekommt. Schwindelnd hohe und in sozialer Hinsicht oft nicht zu verantwortende Summen werden für den Aufbau ausgeworfen; aber an den einzelnen Schauplätzen ist kein Quadratmeter Fläche zu viel gemauert. Da, wo der Schauspieler seine Schritte, ins Weite spähend, anhält, hört auch schon seine Welt auf, und dicht beim Bildrand stehen bereits die Beleuchter, tummeln sich schon die Arbeiter, die Erledigtes niederreißen und Neues aufrichten - davon abgesehen, daß immer mehrere Werke gleichzeitig in Arbeit sind, was dieser Welt vollends ihr einziges Gepräge gibt. Hier ist wirklich jene Fülle des Lebens, die manchen ans Licht verlangenden Stammgast des Kientopp sehnsüchtig stimmt und alljährlich eine Heerschar halbwüchsiger Jugend unwiderstehlich an sich zieht. Die Komödiantenromantik verschollener Zeiten feiert im Film nicht nur eine Auferstehung, sondern eine Steigerung zu unleugbarer Phantastik. Der wahre Höllenspott von Gips und Latten, der in seinen Bezirken fast jeden Tag ein neues Weltbild vortäuscht, mag es noch so schäbig gezimmert sein, besitzt eine starke Gewalt der Verführung. Freilich liegt es auf der Hand, daß sie für die Untergebenen die geringste Wirksamkeit besitzt. Denn ist für sie schon das Treiben hinter dem Vorhang einer Bühne ohne nennenswerte Illusion, so zerfließt ihr Gewerbe hier, jenseits der eigentlichen Vorführung (doch nicht jenseits ihrer Einnahmen), in die ödeste Langeweile. Aber eine Spannung ganz besonderer Art liegt selbst ihrer merkwürdigen Ausdauer zugrunde, und sie erscheint in den leitenden Köpfen, verdeutlicht und manches Rätselvolle erklärend, als eine bewußte Freude am Unmöglichen, die immer entschlossener übrigens auch in der heutigen Operette zutage tritt, und in unserer Zeit, von ihren Gegenständen abgesehen, ohne Zweifel eine der lebendigsten und wahrsten Formen volkstümlich-ästhetischen Verhaltens darstellt (man achte nur auf ihre typenbildende Kraft, die bereits eine ganze Reihe von ständigen Figuren, Situationen und moralischen Werten hervorgebracht hat).

Auf der Niedrigkeit ihrer Gegenstände beruht die derzeitige Verwerflichkeit und auf dem echt künstlerischen Ursprung des Verhaltens die unausrottbare Anziehungskraft dieser Freude auf die Produktiven selbst sehr hohen Rangs. Noch nie sah ich Mauern so dicht mit Obszönitäten bedeckt wie in der Filmstadt; noch nie ging mir aber auch so gegenwärtig die Vorstellung auf, wie eine Kultur aussehen müßte, wo Produktion einem wirklichen, ungestüm drängenden Bedürfnis entspringt, wo es Meister und Nachfolge gibt und das Geleistete aus der Werkstatt mitten in die Diskussion geschleppt wird. Hier freilich steht die Hast der Hervorbringung im umgekehrten Verhältnis zu Wert und Dauer des Produkts.

Was einem beim Eintritt zuerst und nachher an jedem sichtbaren Vorsprung immer wieder auffällt, ist das kategorische Rauchverbot. Betritt man aber ein Atelier, dann sieht man sogleich: alle qualmen wie die Schlote. Die Zigarette feiert Triumphe, in jedem freien Augenblick; die bemalte Diva genießt sie mit spitzen Fingern und starken Zügen zu den Erfrischungen, die in der Pause herumgereicht werden, und unter jedem Paar rotgefärbter Augenlider hängt sie mit schöner Unfehlbarkeit. Dann aber begibt sich folgendes. "Adolph", ein junger Musiker, sitzt beim Schein der Morgensonne am Spinett; er hat sich soeben von seinem lebenslustigen Freund nicht zu einem Spaziergang verlocken lassen, weil er sein Werk schaffen muß, und hat nun im melancholischen Vollbesitz seiner schönen Eigenschaften einen effektvollen Aktschluß zu stellen. Diesen Jüngling mimt ein herrlichlustiger Komiker des Deutschen Theaters, und er schafft's diesmal so: schon seit Pausenbeginn fingert er nachdenklich auf den Tasten, man weiß nicht recht, tut er's im Ernst oder aus Langeweile; in seinem Mundwinkel steckt, zwei Spannen lang, das obligate Elfenbeinrohr mit brennender Zigarette. Während er noch den Mund schief offen hält und mit den Nasenflügeln zwinkert, weil der Rauch ihn kitzelt, tritt schnell von hinten einer an ihn heran, nimmt ihm das Möbel weg und geht einen Schritt zurück; die Photographen begreifen, und Adolph, ohne seine Haltung zu ändern, auch, und an Stimmung wird's dem Bildchen nicht fehlen. Nachher erhält er seinen Stummel sofort wieder.

Aber diese Rücksicht auf die Laune des Schauspielers ist ebenfalls nur Ausdruck des Bestrebens, überspitzte Werte herauszutreiben. Nur wenigen wird sie zuteil, bei näherm Zusehen sieht man, daß nicht alle rauchen. Nicht jeder hat draußen seinen herrlichen Sechsplätzer stehen, der ihn hierher und nach Hause bringt. Warum haben ihn die Stars? Weil in diesen Kreisen ein ausgesprochener Trieb nach Häufung jeglicher Art von Reichtum am Werk ist und man Unmögliches möglich machen will; die Damen, die den größten Haufen Geld beziehen, verstehen meist einen Teufel von Schauspielkunst, aber die Direktoren bewilligen ihnen, wenn sie sich erst heiser geschimpft haben, schließlich doch lachend das Auto und einen ganzen Kodex blödsinniger Sonderwünsche, und das im letzten Grunde nicht nur deshalb, weil sonst der Kontrakt unweigerlich in die Brüche ginge: Eine ungeschriebene, rätselhafte Übereinkunft begünstigt eigensinnig plötzlich den einen Namen, und diese bizarren Möglichkeiten überschweben alles, was zum Film Beziehung hat, verdeutlichen sich zu einer gespenstischen Schicksalsmacht beim Betreten einer Filmbörse, wo in Winkeln der Weltstadt, irgendwo fünf Treppen hoch, eine dunkle Menge in trostlosen Vorräumen Sommertage vertrauert und verwartet, mit vorgereckten Köpfen sich um den auswählenden Agenten drängt, immer wieder abgewiesen wird und stundenlang zu den lächelnden Porträts ihrer Götter und Götzen emporstarrt. Die Popularität der Stars unter den Arbeitern derselben Werkstätte ist bezeichnend. Kraft und Geld werden in diesem Fall unverhohlen bewundert, Sport und Film stellen die Idole. Daher auch die berühmten guten Beziehungen der beiden zueinander (wie das im einzelnen wohl aussieht?). Beiden ist das Tempo gemein, in dem der Rhythmus der Maschinenzeit verherrlicht wird, beide verlangen seine unbedingte Anerkennung.

Mir scheint, unter diesen beiden Brüdern sei der Film der Usurpator, ein in manchen Dingen unehrlicher und anrüchiger Geselle. Um ihn zu beurteilen, braucht sich kein vernünftiger Mensch erst vom Eindruck des betäubenden Presselärms freizumachen, der in den Weltstädten von unsichtbar zusammenhängenden Instanzen verübt wird, weil ein bloßer Spektakel keinen Eindruck zustande bringt. Komm noch einmal zurück in die Aufnahmehalle: unendliches Hämmern, Schreien, Schlagen und Pfeifen der zahllosen Arbeitsplätze nimmt dich auf, Schlagermusik wird vernommen, Eisenkonstruktionen von amerikanischer Kühnheit schwingen sich mit einem Chaos von Maschinen und schimmernden Bahnen unter dem Glasdach hin, daß du geneigt bist, ein Gleichnis zu sehen und die letzten Dinge und Fragen einer Epoche schmerzlich grübelnd anzurühren; Jupiterlampen gruppieren sich von allen Seiten mit blendender Lichtfülle um die kleinste Szene, hoch oben in den Balken noch stehen welche und senden ihre Kegel zu unverstandenem Zweck herab - und auf dieser Szene agiert (ich spreche von einem Typus) ein braver Adolph, wird mit Mitteln von beängstigender Wucht, mit gedankenloser Trägheit und lauter Geschmackskonzession meist der ewig gleiche, ewig alte Quark erzeugt, dessen geistige Rückständigkeit mit fünfzig Jahren gering veranschlagt wird. Beweis: eines dieser Unternehmen hat kürzlich den Nibelungenstoff in Angriff genommen; am Ufer des bereits zum Teil ausgeworfenen Rheinstrombetts stand ich und berechnete, daß wir in einem Jahr (neun Monate sind allein für die Vorarbeiten in Aussicht genommen) oder noch viel später das Vergnügen haben werden, den Stil der Kinoinserate auch über diese Angelegenheit deutschen Geistes ausgegossen zu sehen - eine Angelegenheit, mit der sich die geistig Gerichteten seit dem Krieg verborgen, schmerzhaft und beinahe schamvoll auseinandersetzen, so daß sie einem Werk wie Wagners Ring fast entsagen, es jedenfalls nur noch innerhalb sublimer Voraussetzungen erfassen. Und nun soll der Wust von Trikot und Heroinenbusen in einer Art und Weise wieder aufgerührt werden, als habe man bis dahin nichts von ihm gewußt? Naturgetreu gefärbtes Wasser soll in Strömen fließen - kann dieser Film jetzt schon etwas anderes sein als eine Schwarte? Die Mehrzahl der deutschen Filmunternehmen ist auf falscher Spur (Charlie Chaplin zeigt die richtige), denn man kann volkstümlich sein, ohne als ewiges Vorgestern zu wirken. So, wie die Dinge liegen, reizen sie auf zu Spott und  Mißtrauen. Oder ist das Tempo, das zum Besten gehört, was der Film zu geben hat, etwas anderes als ein äußerliches Verfahren, ein technischer Kniff (die Aufnahme selbst erfolgt wie gesagt höchst  mühselig)? Aber es wäre herrlich, wenn das Wissen um seine Künstlichkeit im Zuschauer bestärkt, statt des geschmacklos aufgebauschten Pathos eine gigantische Lustigkeit und Phantastik gegeben würde. Dann sagte man zu allem ja, nähme den Spaß recht ernst und verneinte nicht mit Recht sehr vieles, was heute fauler Zauber ist.    [1922]


In: Neue Zürcher Zeitung, vom 30. Juli 1922. Wiederabgedruckt in: Fritz Güttinger (Hrsg.): Kein Tag ohne Kino. Schriftsteller über den Stummfilm. Deutsches Filmmuseum Frankfurt am Main 1984, S. 462-67

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