Vier Minuten
Vier Minuten
Birgit Glombitza, epd Film, Nr. 2, 2007
Chris Kraus, Jahrgang 1963, schrieb unter anderem Der Einstein des Sex für Rosa von Praunheim und Liebesluder für Detlev Buck. 2002 gab er sein fulminantes Regiedebüt Scherbentanz. Die Vorlage für Vier Minuten wurde 2004 mit dem Baden-Württembergischen Drehbuchpreis geehrt. Seinen Siegeszug begann der Film beim Internationalen Filmfestival von Shanghai, wo er den Hauptpreis gewann.
Das deutsche Kino wird wohl künftig nicht mehr ohne diese junge, fast schon beängstigend ehrgeizige Frau auskommen. Die 24-jährige Hannah Herzsprung ist der deutsche Nachwuchsschauspielstar der Saison. Ihre Kinokarriere startet Herzsprung mit gleich zwei Filmen. Das wahre Leben, eine mutige, witzige deutsche Tragikomödie von Alain Gsponer, die in ihren besten Momenten an Ang Lees Eissturm denken lässt. Und mit Vier Minuten unter der Regie von Chris Kraus. In beiden Filmen spielt Herzsprung eine Borderlinerin, die Paraderolle fürs erste Profilieren. Ein anstrengender, aber dankbarer Part, weil es so viel zu spielen gibt, und weil das Extreme meist leichter fällt als das Alltägliche.
Hannah Herzsprung legt also los, und wie: die pulsierende Zornesfalte auf ihrer Stirn, dazu der irre Blick von schräg unten, dem man nur wünschen kann, dass er nicht eines Tages arretiert wie bei Jack Nicholson. Dann diese überraschend wasserblauen Augen, die ganz plötzlich durch die Finsternis um sie herum leuchten können. Als ob jemand im Keller das Licht anmacht. Herzsprung kennt die Effekte der eigenen Natur nur zu gut. So gut, dass ihr Spiel früh zu Manieriertheiten neigen könnte, wenn es nicht abgebremst würde von widerstreitenden Körperpartien. Oder wenn es nicht spannungsreich konterkariert würde von einem besonnenen und unaufgeregten Gegenpart.
Den übernimmt in dem heftig umjubelten Film Vier Minuten Monica Bleibtreu als zugeknöpfte Klavierlehrerin Traude. Sie unterrichtet im Frauenknast, dort stößt sie auch auf ein widerborstiges Wunderkind, auf die vermeintliche Mörderin Jenny (eben Hannah Herzsprung), die Traude bis ins Finale von „Jugend musiziert“ boxt. Ein Tango zwischen zwei Seelenverwandten bahnt sich hier an, mit all den künstlichen Verzögerungen und unverhofften Annäherungen, die dieser Tanz so mit sich bringt.
Mehr als acht Jahre hat Chris Kraus an dem Projekt gesessen. Ein vorläufiges Lebenswerk, bei dessen Außenwirkung nichts dem Zufall überlassen wurde. In jeder noch so kleinen Nebenrolle finden sich die TV- und Kino-Lieblinge der Nation. Vadim Glowna als inzestuös übergriffiger und dabei ziemlich zermürbter Vater, Richy Müller als prolliger, genervter Wachmann, Nadja Uhl als naiv-eifrige Gefängnispsychologin, Stefan Kurt als aalglatter, publicityhöriger Direktor und Jasmin Tabatabai als großmäulige Knastkönigin. Allesamt genau besetzt nach Image und längst bewährten Profilen, bisweilen am Rande der Selbstkarikatur.
Man merkt dem Film die Anstrengung an, die er gekostet hat. Die sprunghaften Kadrierungen, aus denen überbordender Einfallsreichtum, aber auch der Hang zur steten Überhöhung bis hin zum blanken Psychokitsch sprechen. Die Ausstattung, die es sich nicht verkneifen kann, jede Misere, jede Nische durchzustylen. Ob es sich um die hübsch heruntergekommene Sporthalle oder das Zimmer des Direktors mit seinem ebenso unglaubwürdigen wie penetranten Retroschick handelt – an allen Ecken wurde hier geklotzt, und das bei einer Geschichte, die sich selbst schon manchmal zu viel ist. Zu viel an Klischees von Qual und Knast. Das Borderline-Mädchen, inszeniert als kleine Virtuosin des Schmerzes, der Kälte und der Wut, als verlorenes Schäfchen, dem wir zugucken dürfen, wenn es sich die Haut aufritzt, lebensgefährlich gegen Fensterscheiben rennt oder mit viel Rot den obligatorischen Spiegel zertrümmert. Ein Leiden mit beträchtlichen Schauwerten, deswegen hat das Kino diese Figur schon seit G.W. Pabst für sich entdeckt. Dazu die alte Jungfer mit Dutt und Hornbrille, die von Demut, Zucht und Ordnung redet. Natürlich hat sie selbst eine Leiche im Keller. Sie hat ihre Geliebte verleugnet, um die eigene Haut vor den Nazis zu retten. Ein Verrat, der ihr bleischwer auf dem Herzen liegt, sie hart und einsam macht. Bis die härtere, einsamere Jenny kommt, um sich schlägt, aufs Klavier eindrischt und spielt, als sei der Teufel hinter ihrer Seele her.
Ein Drehbuch zwischen Exorzismus und Konfrontationstherapie, eine Verführung zum eitlen Rampenspiel und enthemmten Psycho-Strip. Doch Herzsprung und Bleibtreu disziplinieren sich gegenseitig. Im klugen Zusammenspiel lassen sie das Unangenehme und Überambitionierte, das wie ein kleiner Fluch über dem Film liegt, über manche Strecken vergessen. In ihren ruhigeren und bescheideneren Auftritten sorgen sie dafür, dass man sich auf das konzentrieren kann, worum es hier gehen soll. Um Zerstörung und Hass, um Schuld und Vergebung, das Drama der Jugend und das des Alters. Und natürlich um den tiefen Knicks vor der Musik, ihre Macht, ihren Rausch und ihr Befreiungspotenzial.
Man kann das pathetisch oder kitschig, lärmend und überdosiert finden. Doch Schubert und Frauenseelen in Ketten, das sind Zuspitzungen, die vom Publikum schnell geliebt werden. „Grandios“ und „überwältigend“ fanden das viele in Hof. In Shanghai erhielt Vier Minuten den Preis für den Besten Film. Und man kann sich gut vorstellen, dass Juryleiter Luc Besson seinen Gefallen an der Wucht und den Effekten von Vier Minuten hatte.
Mit viel Leidenschaft, Pathos und Wucht inszeniert Chris Kraus seinen zweiten Kinofilm. Das Drama um eine strenge Klavierlehrerin und ihre widerspenstige Meisterschülerin im Knast lebt von der Kraft seiner Darstellerinnen, auch wenn es manchmal unter den Ambitionen von Regie und Drehbuch leidet.