Summary
Le Quattro Volte
An old shepherd lives his last days in a quiet medieval village perched high on the hills of Calabria, at the southernmost tip of Italy. He herds goats under skies that most villagers have deserted long ago. He is sick, and believes to find his medicine in the dust he collects on the church floor, which he drinks in his water every day. A new goat kid is born. We follow its first few tentative steps, its first games, until it gains strength and goes to pasture. Nearby, a majestic fir tree stirs in the mountain breeze and slowly changes through the seasons. The tree now lies on the ground. It has been reduced to its own skeleton, and is transformed into wood coal through the ancestral work of the local coal makers. Our sight gets lost in the ashes’ smoke. Le Quattro Volte is a poetic vision of the revolving cycles of life and nature and the unbroken traditions of a timeless place. The story of one soul that moves through four successive lives.
Source: 61. Internationale Filmfestspiele Berlin (Catalogue)
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Es sind archaische Bilder einer urtümlichen, wie unberührt wirkenden Landschaft, die uns Michelangelo Frammartino, dessen Familie von dort stammt, durch sein vielfach ausgezeichnetes Werk „Vier Leben“, das die Grenzen zwischen Dokumentation und Spielfilm überschreitet, auf so berührend unmittelbare Weise nahe bringt, obwohl das gesprochene Wort, wenn überhaupt, das eine oder andere „grazie“ fällt, nur zur spärlichen Geräuschkulisse gehört.
Wir sehen einen nur noch von wenigen Alten bewohnten, malerisch auf einem Berg gelegenen Ort, der gleichzeitig vom Köhler wie vom Hirten beliefert wird, an dessen Rand letzterer in sehr bescheidenen vier Wänden wohnt, zu seinen Füßen der Ziegenstall. Und verstehen nicht, warum er für seine Kanne Milch, die er in die Sakristei der mächtigen Kirche trägt, kein Geld kassiert, sondern in Zeitungspapier gewickelten Staub, der offenbar vom Kirchenboden stammt. Und von dem er sich, quasi als Schlaftrunk, eine Prise in ein Glas Wasser auflöst.
Wir werden Zeugen einer Prozession unter großer Anteilnahme der Bevölkerung offenbar aus dem weiten Umkreis mit einem Jesus-Darsteller, der schwer am Kreuz zu tragen hat und von Menschen in römischen Uniformen begleitet wird, wenige Meter dahinter freilich von einem Geistlichen unserer Tage und jeder Menge buntem Fußvolk.
Wir verstehen zunächst nicht, wie das Zeitungspapier mit dem Kirchenstaub, das in einem Ameisenhaufen gelandet ist, mit dem nächtlichen und notabene vergeblichen Pochen des alten Hirten ans Kirchentor zusammenhängt und damit, dass am anderen Morgen die Ziegen am Bett ihres starr darin liegenden Besitzes zupfen.
Obwohl wir mitbekommen haben, dass es einen besonderen Grund gegeben haben muss, dass der aufgeregte Hütehund des Hirten vergeblich versucht hat, „Laut“ zu geben während der Prozession, um dann im wahren Wortsinn den Stein ins Rollen zu bringen, der den Kleinlaster der „Gladiatoren“-Darsteller mit Wucht in den Ziegenstall rollen lässt und die Tiere befreit.
Erst als wir Zeuge des wesentlich bescheideneren Beerdigungszuges werden, mit dem der alte Ziegenhirt zu Grabe getragen wird, lernen wir, die bisher gesehenen Bilder selbst zu einem Mosaik zusammenzusetzen. Wofür uns Michelangelo Frammartino und Andrea Locatelli immer wieder Zeit einräumen, bis es, Tod und Leben gehen quasi ineinander über, weiter geht mit der Geburt einer Ziege und einem Volksfest, in dessen Mittelpunkt der höchste Baumstamm der Gegend ist.
„Vier Leben“ entführt uns in ein mittelalterliches Dorf im tiefsten Süden Italiens, in die Bergregion Kalabrien, und in eine archaische Welt voller heidnischer Traditionen, die sich im hier naturgemäß römisch-katholischen Christentum gehalten haben. Wie der Staub vom Kirchenboden, den der Alte als Medizin nimmt und stirbt, als er sein Pulverbriefchen unterwegs verloren hat und nachts kein neues mehr auftreiben kann.
Wie das auf die Langobarden zurückgehende Fruchtbarkeitsritual „Festa della Pita“, wo die höchste Tanne der Umgebung gefällt, von den Zweigen befreit und auf dem Dorfplatz aufgestellt wird. Freilich nicht mehr wie früher mit hoch an den Baum gebundenen Ziegen, die vom Boden aus erschossen wurden, sodass sich ihr Blut auf alle Anwesenden verteilte. Sondern mit bunten Luftballons und glitzernden Päckchen.
„Le Quattro Volte“ verknüpft in vier zunächst sehr rätselhaften und, besonders was die wundervolle Ziegen-Episode betrifft, nicht zu Ende erzählten Geschichten vier Lebensbereiche miteinander: Der Hirte repräsentiert den menschlichen, seine Ziegen den tierischen, die gefällte Tanne den pflanzlichen Bereich und die Holzkohle, zu der die Tanne bei den Köhlern schließlich verarbeitet wird, die Transformation des lebenden pflanzlichen Materials in mineralische Materie – als, so Michelangelo Frammartino, „Triumph der Materie über das Objekt, das nicht stirbt, sondern kontinuierlich transformiert wird.“
In seinem nach „Il Dono“ (2003) erst zweiten Spielfilm gibt der 1968 in Mailand geborene Michelangelo Frammartino dem Kinopublikum viele Rätsel auf mit seinen kleinen, unspektakulären, erst auf den zweiten Blick miteinander verbundenen Geschichten. Auf die man sich einlassen, in die man sich erst einsehen muss. Ein nur dem Action-Kino zugeneigtes Publikum wird nach der ersten kontemplativen Viertelstunde das Weite suchen – wie im Übrigen ein Großteil der Kollegen bei der von mir besuchten seinerzeitigen Pressevorführung. Wer dagegen sechs Jahre zuvor von Philip Grönings „Die große Stille“ begeistert war, übrigens auch von Ventura-Film koproduziert, kostet jede Minute aus.
Pitt Herrmann