Tull

DDR 1978/1979 TV-Spielfilm

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Heinz17herne
Heinz17herne
Ein offenbar stark angetrunkener Mann schleppt einen voluminösen Karren über die Landstraße und schimpft über Autofahrer, die mit zu geringem Abstand an ihm vorbeirasen. Als er ihn auf ein Feld schiebt und die Decke vom Handkarren abzieht, werden zahlreiche Vogelkäfige sichtbar. Der Mann öffnet sie und lässt seine Kanarien frei. Was anderntags am Hochofen im Hüttenwerk Freital Gesprächsthema Nummer eins ist: Birke habe sich von seinen Lieblingen getrennt, indem er sie in eine für Exoten eher zwiespältige, weil zumeist tödlich endende Freiheit entlassen hat. Darauf angesprochen, reagiert Birke unwirsch: Sie haben partout nicht singen wollen.

Auch sein Kollege, der Gießer Tull, kann mit dieser Begründung nichts anfangen. Zahlreiche Stahlarbeiter züchten als Ausgleich zur harten Schichtarbeit Singvögel, stellen sich gar offiziellen Wettbewerben. Da wirft man so schnell nicht die Flinte ins Korn, es sei denn, man denke ernsthaft über einen Berufs- oder Ortswechsel nach. Was bei Birke allerdings ziemlich regelmäßig der Fall ist. Freilich hat er jetzt andere Sorgen privater Natur: als eine schwangere Frau auf der Straße stürzt, ergreift Tull als einziger im großen Menschenauflauf die Initiative und fährt sie ins nächste Krankenhaus. Weshalb er zum Date mit seiner Freundin Ilona reichlich zu spät kommt. Sie ist im gleichen Hüttenwerk als Kranführerin tätig und beklagt sich über ihr nagelneues französisches Arbeitsgerät: nichts gegen Schallschutz und Klimatisierung, aber nun kann sie kein Fenster mehr öffnen, da fallen alle Gespräche mit den Kollegen weg.

Tull hört nur mit dem zweiten Ohr hin. Er und seine Stahlwerker-Kollegen leiden unter den neuen Anforderungen am Arbeitsplatz, die ihnen eine Weiterentwicklung des Brennofens durch den Wissenschaftler Fichte eingebrockt hat: die Effizienzsteigerung, welche Professoren des DDR-Zentralinstituts in Zweifel ziehen, geht klar auf Kosten der Arbeitsbedingungen. Fichte, der in Moskau studiert hat und ganz idealistisch für seine Neuerertätigkeit brennt, bittet Tull zum Gespräch – ins Kinderzimmer seiner Schwester, das er vorübergehend bewohnt. Doch der Gießer mauert: Die versuchsweise schräg gestellten Brenner hätten noch nicht das erwünschte Resultat erbracht.

Was Fichte befürchten muss: die Gewerkschaft und die Stahlwerksleitung sind nicht auf seiner Seite. Denn es hat erste handgreifliche Auseinandersetzungen mit Tull gegeben, der sich kurz vor Schichtende geweigert hat, für weitere Experimente Überstunden zu machen. Nachdem selbst Gropius von der SED-Kreisleitung Wind davon bekommen hat, soll Tull nun höherenorts Bericht erstatten. Unter dem Motto: Neue Wege – aber nicht auf unsere Knochen. Was ihm freilich gar nicht schmeckt. Und gerade jetzt auch überhaupt nicht in den Kram passt: Tull macht sich auf in die Klinik, um sich nach der Schwangeren zu erkundigen. Die heißt Hanna und hat ihn – offenbar in Ermangelung des natürlichen Erzeugers – gegenüber der Krankenschwester als Vater des nun bald zu erwartenden Kindes angegeben. Was ihm mehr als nur zu denken gibt.

„Wie find ich denn das: Mann stellt mir nach. Ohne Bauch ist mir das nie passiert“: Tull in Schlips und Kragen führt Hanna im flammenroten Wartburg aus – ins Grüne. Aber die beiden sind zu ungleich, ein richtiges Gespräch will nicht aufkommen. Was wohl am Gesprächsthema liegt: Tull berichtet anschaulich und sehr emotional über seine Probleme und die seiner Kollegen am Arbeitsplatz. Er sucht Austausch, Nähe und auch Rat, findet all das bei Hanna nicht – und bei seiner fast 70-jährigen Mutter auch nicht wirklich. Als er mit Ilona vom Faschingsball nach Hause kommt, hockt Hanna auf den Treppenstufen vor seiner Wohnungstür – und Ilona muss denken, dass Tull fremd gegangen ist. Zumal, da wenig später die Kunde durchs ganze Hüttenwerk geht, dass Tull Vater eines gesunden Jungen geworden ist – was ihn unzählige Runden beim Wirt Paul kostet.

Die seit langem angedrohte Sekretariatssitzung steht kurz bevor und Tull sträubt sich dagegen, Fichte anzuschwärzen. Noch dazu, als er herausbekommt, dass der Wissenschaftler Vater des Kindes namens Anton ist, sich aber nicht zu ihm und seiner Mutter bekennt, um seine Forschung nicht zu gefährden. Da ist er bei Tull aber an die falsche Adresse geraten – und als Ilona als Springerin in seine Nachtschicht eingeteilt wird, kann er auch diese Baustelle beseitigen.

„Tull“, dessen Arbeitstitel der Eingangsszene entsprechend „Vogelflug” lautete, ist am 29. April 1979 im DDR-Fernsehen uraufgeführt worden. Nach der Ausstrahlung hagelte es offiziöse Kritik an der für einen Film aus der Produktion unkonventionellen Handlung und am eigenwilligen Charakter des Titelhelden sowie der anderen Protagonisten, noch zu nennen Günter Grabbert als Hansi, Roman Kaminski als Grille und Klaus Piontek als Pogge. Die Filmemacher Benito Wogatzki (Buch), Lothar Bellag (Regie) und Adam Pöpperl (Kamera) wurden angehalten, das Positive stärker zu betonen: Am Ende des 108-minütigen Films, dessen Neufassung am 7. September 1982 erstmals im DDR-Fernsehen ausgestrahlt wurde, steht jeder zu seiner Verantwortung – was die Vaterschaft betrifft zur persönlichen und das Gemeinwohl betreffend zur gesellschaftlichen. Tull, der Betrieb, die Gewerkschaft und die Partei rehabilitieren Fichte auf ganzer Linie.

Pitt Herrmann

Credits

All Credits

Director

Scenario

Script editor

Director of photography

Editing

Music

Location manager

Shoot

    • Freital
Duration:
108 min
Video/Audio:
Orwocolor, Ton
Screening:

Uraufführung (DD): 29.04.1979, DDR-TV;
Uraufführung (DE): 07.09.1982 [2. Fassung]

Titles

  • Originaltitel (DD) Tull
  • Arbeitstitel (DD) Vogelflug

Versions

Original

Duration:
108 min
Video/Audio:
Orwocolor, Ton
Screening:

Uraufführung (DD): 29.04.1979, DDR-TV;
Uraufführung (DE): 07.09.1982 [2. Fassung]