Summary
Paris – No Day Without You
1975: when she goes to a party with her friend, a woman comes to the attention of the secret service. Her name even remains on their records years later. What she did not know is that at the party Carlos the terrorist was to shoot 3 men. An incredible film essay: exciting and pertinent.
Source: DOK.fest München 2020
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Ulrike studiert Kunst, macht bei der Illustrierten Stern in Hamburg ein Voluntariat als Bildgestalterin und will anschließend in Paris ein Filmstudium aufnehmen. Von Jean Marie eingeladen fährt sie zusammen mit ihrer Freundin Ute von der Horst in die Normandie. Und folgt Jean Marie, der sich von seiner nach Venezuela zurückkehrenden Freundin Nancy Sanchez verabschieden will, zu einer Party ins Quartier Latin. Als sie in die Rue Toullier einbiegen, weder das Haus noch gar die Wohnung betreten haben, werden sie von der Polizei verhaftet und tagelang verhört, Jean Marie sogar gefoltert. Und das im einst von der Gestapo genutzten Keller des Polizeihauptquartiers am quai des Orfèvres.
Zur falschen Zeit am falschen Ort: Illich Ramirez Sanchez, „Carlos, der Schakal“, hatte zwei Stunden zuvor in besagter Wohnung zwei französische Geheimdienst-Beamten und einen Libanesen erschossen. Während Jean-Marie, der seinen Mitstudenten „Carlos“ kannte, freigelassen wurde und nur einmal, 2005, Probleme bei der Einreise in die USA hatte, bleibt Ulrike – auch aufgrund ihres Vornamens – im Fokus der Behörden. In einer emotional aufgeladenen Zeit der RAF-Verbrechen, der Stammheimer Selbstmorde und der allgemeinen Terroristen-Hysterie gesellten sich Lügengeschichten der Springer-Blätter Hamburger Abendblatt und Die Welt zu einer reinen Märchenerzählung des Stern: Ulrike Schaz wurde als „Terroristin“ und „Freundin von Carlos“ bezeichnet und in diversen Datenbanken aufgenommen, wie sich später herausstellt, auch in die der DDR-Staatssicherheit.
Alle juristisch durchgesetzten Gegendarstellungen, eine seitenlange Richtigstellung im Stern, dort hatte Ulrike schließlich über ein Jahr gearbeitet, die Aufhebung des französischen Ausweisungsbeschlusses und die Einstellung der Ermittlungen in Deutschland nützen der engagierten Frauenrechtlerin und später weltweit tätigen Dokfilmerin nichts: Bei zahlreichen Grenzübertritten von Dänemark bis Spanien muss sie sich peinlichste Durchsuchungen gefallen lassen. Noch 1993 wird sie vom FBI im New Yorker Flughafen verhaftet und zur Rückreise gezwungen: alle Versuche, aus entsprechenden Dateien gelöscht zu werden, versandeten. Ende offen…
„Paris – Kein Tag ohne Dich“ ist ein mit 107 Minuten sehr langer, sehr persönlicher Blick ohne Groll auf eine fassungslos machende Kette von letztlich tragischen Ereignissen, die den Untertitel „Eine Inventur“ trägt. Dieser bei aller Emotion der Protagonisten, noch zu nennen Bernadette Ridard und Ingrid Niemann, bewusst künstlerisch gestaltete, mit distanzierender Verfremdung arbeitende Essayfilm ist über weite Teile im Ottenser Werkhof in Hamburg gedreht (und geschnitten) worden, wo Ulrike Schaz ihr Atelier hat. In einer Art Werkstatt kommen die ein Leben lang miteinander verbundenen Freunde zusammen, um für das Filmprojekt Material zu sichten, persönliche Dokumente auszutauschen und noch einmal das bis heute unfassbare deutsch-französische Geschehen zu reflektieren.
„Dich hatten sie mehr im Visier, denn dein Vorname war Ulrike - und Ulrike – das war damals - Ulrike Meinhof“, sagt Jean Marie wie zur Entschuldigung. Der am 7. Mai 2020 beim DOK.fest München (VoD) uraufgeführte Blick zurück ohne Zorn, der coronabedingt erst am 3. November 2021 Deutschland-Premiere im Metropolis Hamburg feiern konnte, macht dennoch zornig – weil ratlos. Denn wie in diesem kafkaesken Fall reicht allein ein Vorname aus, um ins Visier staatlicher Geheimdienste zu geraten. Und die Geschichte ist immer noch nicht zu Ende. Sie mag als Warnung dienen – und als Mahnung: Jeder unbescholtene Bürger kann irrtümlicherweise ins Räderwerk polizeilicher und geheimdienstlicher Ermittlung und damit in das System internationaler Datenspeicherung geraten – und hat keine Chance, dort wieder herauszukommen.
Ulrike Schaz im jip-Presseheft: „Ich kann nur die Dinge einbeziehen oder reflektieren, derer ich habhaft werden kann. Aber die Datenspeicherungen der Geheimdienste sind unzugänglich und entziehen sich jeder Kontrolle. Und ich wette, dass meine Daten aus dem Jahre 1975 nicht ‚kontextualisiert‘ wurden. Das ist ja das Verrückte. Sie werden konserviert. Für alle Fälle. Man weiß ja nie. Wahrscheinlich wird da noch stehen, dass ich ein ‚Terrorist‘ bin, wenn ich tot bin. Und diesem Archiv fehlt jede Transparenz. Das ist gefährlich. Die Datenspeicherung ist in der Zeitspanne der Geschichte extrem weiterentwickelt worden. Als wir in Paris verhaftet wurden, wurde über Lochkarten gespeichert und es gab keine Computer. Die Vernetzung war also längst nicht so perfektioniert wie heute. Umso wichtiger wären Kontrollinstitutionen und Möglichkeiten sich gegen Speicherungen zu wehren.
Pitt Herrmann