Summary
Leaving and Staying
In Uwe Johnson’s last study in the English town of Sheerness, there was a map of Mecklenburg on the wall – the region of his childhood to which he never returned after his emigration to the West and could only reconstruct in the literary sense afterwards. Volker Koepp’s film is conceived as a geobiography: he travels with Johnson’s texts to places from the author’s life, finding people and landscapes connected to his work and his person, sometimes closely, sometimes more loosely. Koepp’s and Johnson’s poetic projects intertwine: their landscapes and biographies resist linear progression; history remains stored in them only to reveal itself again and again. For Johnson, when he swims in the Baltic Sea, the dead are present, floating in the Bay of Lübeck after the 1945 sinking of the Cap Arcona. Koepp speaks with a woman who recalls how holidaying in Italy evoked thoughts of those fleeing across the Mediterranean by boat. Johnson’s sorrow at the invasion of Prague by Warsaw Pact troops is mirrored in Russia’s ongoing attack on Ukraine, which affects the filming. When a river flows slowly, it can change direction with even just a little wind and return to its source.
Source: 73. Internationale Filmfestspiele Berlin (Catalogue)
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Diese Landschaft war für Johnson lebenslang ein wichtiger literarischer Bezugspunkt, erst recht, nachdem er 1959 die DDR verlassen hatte und fortan in West-Berlin, New York und schließlich England lebte. Neben Erfahrungen als Schüler, Student und angehender Schriftsteller in der frühen DDR durchziehen Motive des Gehens und Bleibens sein Werk wie das vierbändige Opus magnum „Jahrestage“, aber immer wieder auch die Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte und deutscher Schuld.
„Wohin ich in Wahrheit gehöre“: Für die Dokumentation „Gehen und Bleiben“, am 19. Juni 2024 vom Rundfunk Berlin-Brandenburg erstausgestrahlt, sind Volker Koepp und Kameramann Uwe Mann mit größtenteils von Peter Kurth gelesenen Texten Uwe Johnsons in dessen biografische und literarische Gegenden gereist, durch die Fluss- und Seenlandschaft Mecklenburg-Vorpommerns zwischen Anklam und Güstrow, in den nordöstlichen Zipfel Mecklenburgs, den Klützer Winkel und auf das Fischland an der Ostsee bei Ahrenshoop.
Erste Station ist Anklam, wo perspektivlose junge Leute auf Bierkästen an der Peene abhängen. Vor Uwe Johnsons Elternhaus erzählt die junge Schriftstellerin Judith Zander davon, dass sie bei seiner Gattin Elisabeth an der Universität Greifswald studiert hat und das Johnsons Debütroman „Mutmaßungen über Jacob“ ihr Leben veränderte. Am Ende steht sie auf einem Anklamer Bahnsteig und liest aus ihrem Roman „Johnny Ohneland“.
Vor der John Brinckmann-Schule seines Heimatortes Goldberg erinnert der Schauspieler Peter Kurth an den neben Fritz Reuter größten, heute jedoch weitgehend vergessenen niederdeutschen Schriftsteller. Kurth spricht über die harten Winter seiner Kindertage und Schlittschuh-Exkursionen über zugefrorene Kanäle von See zu See. Und in Nossendorf erinnert der Filmemacher Hans-Jürgen Syberberg an den Massensuizid im benachbarten Demmin beim Einmarsch der Roten Armee 1945.
In der einst schwedischen Grenzfeste Klempenow, der ältesten Niederungsburg Norddeutschlands, spricht Undine Spillne über die wechselvolle Geschichte Mecklenburg-Vorpommerns. Und in Berlin-Schmöckwitz erzählt Uwe Johnsons Klassenkamerad Heinz Lehmbäcker von einer lebenslangen Freundschaft zum später so prominenten Autor, unterfüttert mit zahlreichen Fotografien seiner Gattin Hanna etwa von einem gemeinsamen Besuch der Funkausstellung 1953 in West-Berlin.
In Güstrow, wo Johnson Abitur machte, bevor er in Rostock und Leipzig Germanistik studierte, erzählen Pfarrer Christian Höser und Dietrich Sagert von Ernst Barlach und vom Kirchenkampf in der NS-Zeit („Deutsche Christen“ für Hitler) und in der DDR. Wie Uwe Johnson war Sagert als Mitglied der Jungen Gemeinde Repressionen ausgesetzt, musste als Bausoldat schuften und hat später in Frankreich und den USA gelebt.
In einer Leipziger Buchhandlung im größten Kopfbahnhof Europas spricht der Theaterkritiker Thomas Irmer über seine Studienzeit Mitte der 1980er Jahre, wo nur die ersten beiden Bände der „Jahrestage“ ausleihbar waren, während die letzten beiden, die sich kritisch mit der DDR auseinandersetzen, im Giftschrank der Unibibliothek verstaubten.
Uta Löber bewohnt das Ahrenshooper Haus, das in den „Jahrestagen“ ausführlich beschrieben wird. Ihre Mutter Ella, eine Keramikerin, hat einst mit Uwe Johnson studiert. Der aus Güstrow stammende Kieler Rechtsmediziner Hartmut Bosinski und seine Ehefrau Karin blicken vom Dahmeshöveler Leuchtturm auf die ostholsteinische Landschaft und erzählen, wie sie sich in New York auf die Spuren Uwe Johnsons begeben haben.
Schließlich berichtet der Literaturwissenschaftler Erdmut Wizisla im von ihm geleiteten Brecht-Archiv an der Chausseestraße in Berlin von der Weigerung des Aufbau-Verlages, Kapitel des „Republikflüchtlings“ Johnson in die gemeinsame Berliner-Frankfurter Werkausgabe mit dem Suhrkamp-Verlag aufzunehmen.
„Gehen und Bleiben“ nähert sich Uwe Johnson kaleidoskopartig unter ganz individuellen Blickwinkeln. Die sich häufig spiegelnden Prismen ergeben ein abwechslungsreiches, aber auch verwirrend schillerndes Bild, das von 2020 bis 2022 während der Pandemie und der Ausweitung des russischen Angriffskrieges auf die gesamte Ukraine entstand. Volker Koepp fragt in seinem auch durch persönliche Anmerkungen und politische Bekenntnisse ungewöhnlichen Film, welche Bedeutung die Vergangenheit für das gegenwärtige Leben hat und wie ein vorsichtig-optimistischer Blick auf die Zukunft mit Motiven des Gehens und Bleibens zusammenhängt.
Pitt Herrmann