Erinnerung an eine Landschaft - für Manuela

DDR 1983 Dokumentarfilm

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Heinz17herne
Heinz17herne
Die DDR erzielte 1989 die bis heute weltweit unerreichte jährliche Förderquote von 300 Millionen Tonnen Braunkohle. Das hatte enorme Auswirkungen auf die Kulturlandschaft im Süden von Leipzig. Waren bis Mitte der 1970er Jahre „nur“ kleinere Ortschaften dem Bergbau zum Opfer gefallen, schlug zwischen 1977 und 1981 für Magdeborn (Tagebau Espenhain) und zwischen 1984 und 1986 für Bößdorf und Eythra (Tagebau Zwenkau) mit ihren jeweils rund 3.000 Einwohnern das letzte Stündlein – ein heißes Eisen für alle Medien in der DDR.

Im Zuge dieser Entwicklung entstand ein, nicht nur gemessen an den damaligen Umständen der politischen Brisanz und der bei der Defa üblichen mehrjährigen Vorausplanung, bemerkenswerter Dokumentarfilm. Der Regisseur Kurt Tetzlaff, unterstützt durch das Direktorium des Braunkohlen-Kombinats BKK Espenhain und den auf vier Produktionsjahre verteilten, für einen Defa-Dokumentarfilm exorbitanten Etat von 1 Million Mark, begleitete über mehr als drei Jahre hinweg den Untergang der drei Orte. Der ursprüngliche Plan, mit dem Film einen positiv-unterstützenden Beitrag für die Energiepolitik der DDR in die Kinos zu bringen, scheiterte freilich grandios: Tetzlaff zeigt den schmerzlichen Abschied vor allem der alten Menschen von ihrer seit der Geburt oder seit der Nachkriegszeit vertrauten Umgebung, die bald aufhören wird zu existieren: Eythra ist inzwischen im Zwenkauer See, Magdeborn im Störmthaler See untergegangen.

Unter auch später noch enervierenden Klarinettenklängen wälzt sich eine blonde Frau im Bett. Hat sie Schmerzen, wird sie von Alpträumen gequält? Unter Glockenläuten aus dem Off wird eine Kirche gesprengt. Kein Kommentar erläutert die Zusammenhänge, nur O-Töne sind zu vernehmen. Erneut rückt die Frau ins Bild, dann der Abriss der Ruine des Gotteshauses, schließlich wird, in sehr realistischen Bildern der Kameraleute, die Geburt eines Mädchens gezeigt – Manuela, welcher der Film gewidmet ist.

Der Schnitt ist suggestiv, von leuchtend roten Blumen schwenkt die Kamera auf eine Ruinenlandschaft, wie wir sie aus Bildern des Kriegsendes 1945 her kennen. Und dann beschwert eine Karl-Marx-Büste Kartenmaterial, an dem ein Mitarbeiter erläutert, welche Ortschaften in den nächsten Jahren der Braunkohle zum Opfer fallen müssen. Er nennt erstaunliche Zahlen: Pro Wohneinheit entstehen dem Staat Kosten in Höhe von 95.000 Mark für Abriss, Umsiedlung und Neubau. Allein für Magdeborn betrugen die Gesamtkosten 120 Millionen Mark. Alternativlos, würde man heute sagen: die rohstoffarme Republik braucht Energie zum Überleben. Was im Übrigen die meisten Umsiedler nachvollziehen können: sie leben selbst vom Tagebau. Und unter ihren Häusern schlummert noch Kohle für zwanzig Jahre.

Das Ortsschild von Magdeborn wird abgenommen, obwohl noch 180 Familien hier ausharren: die Postbotin radelt durch eine unwirkliche Geisterlandschaft. Die letzten sieben Schüler werden täglich in Taxen zu den Schulen ihrer künftigen Wohnorte chauffiert. Was auch daran liegt, dass in Leipzig-Grünau, dem größten Neubaugebiet der DDR, die Planerfüllung zu wünschen übrig lässt: die Plattenbauten decken den Bedarf bei weitem nicht. Und Ersatz in dörflichem Umfeld, wie ihn etwa der Magdeborner Dachdeckermeister für seine Familie gefunden hat, nachdem der Polterabend seiner Kinder noch im alten Haus stattgefunden hat, bleibt die Ausnahme.

„Es war doch schön hier!“ steht in Kreideschrift an einer Hauswand. Eine nun in dritter Generation geführte Gaststätte, die auf ihr 100-jähriges Bestehen zurückblicken kann, bleibt bis zuletzt der Mittelpunkt der Gemeinde. Zwei Jahre später sitzt der Gastwirt zufrieden in seiner komfortablen Leipziger Neubauwohnung – und auf dem Ungetüm des Braunkohlen-Baggers. Geregelte Arbeitszeiten, frische Luft, gesünderes Leben – er zählt sich zu den Gewinnern. Das Fällen der 250 Jahre alten „Napoleon-Eiche“, welche die legendäre Schlacht bei Leipzig und danach alle weiteren Kriege überstanden hat, wird zur Metapher für die Zerstörung der Wurzeln zahlloser Anwohner, die ihre Fotoapparate gezückt haben. Der Off-Kommentator, auch der Kommentartext stammt von Kurt Tetzlaff, stellt in nachdenklichem Tonfall „die Frage nach Verlust und Gewinn“.

Pferde und Ponys grasen friedlich auf einer bunten Blumenwiese. „Kein schöner Land in dieser Zeit“ singt der Dorfchor von Eythra, die Gaststätte „Zum Adler“ erhält ein neues Dach. Dabei ist allen 4.500 Einwohnern bewusst, dass in vier Jahren hier kein Stein mehr auf dem anderen steht. Sie lassen sich ihre Feierlaune dennoch nicht vermiesen: „30 Jahre DDR – 1000 Jahre Eythra“ steht auf einem Banner quer über der Hauptstraße. Eine Kriegswitwe erzählt, wie sie fünf Kinder allein großgezogen hat. Sie will hier nicht weg – und in die Stadt schon gar nicht.

Offene Worte, die den Parteibonzen nicht gefallen haben. Insgesamt sieben Abnahmen haben stattgefunden, berichtet Kurt Tetzlaff am 24. April 2019 im Berliner Kino „Toni“, jedesmal habe es Kürzungen gegeben. Der Regisseur, 1933 im pommerschen Tempelburg geboren, einem heute zu Polen gehörenden Ort, ist selbst ein Heimatvertriebener, hat über die Schere im eigenen Kopf bittere Worte anderer „Umsiedler“, die nun zum zweiten Mal ihre Heimat verlieren, aus dem Film geschnitten. Und einen Satz, der im Gespräch mit der Abbruchbrigade fiel, auf Bitten des ihm durchaus gewogenen Ministers Horst Pehnert: „Es gab auch Leute, die sich aufgehängt haben.“

„Die Lebenden nehmen ihre Toten mit“: Friedhöfe werden verlegt, aus der vor dem Abriss stehenden Kirchen die Glocken gerettet, Tränen fließen besonders bei den Alten. Aber bei der bereits in Leipzig gefeierten Silberhochzeit fällt zwei Jahre nach dem ersten Kulturschock kein böses Wort mehr: die Magdeborner haben sich arrangiert, leben auch in der Platte eng beieinander, eine Straße trägt den Namen des untergegangenen Ortes. Da hat es ihr Dachdeckermeister schlechter getroffen: als Neuer in einem fremden Dorf bleiben er und seine Familie Ausgeschlossene. Und zum 3. Geburtstag Manuelas erinnern nur noch Erzählungen der Alten an die für immer verlorene, zerstörte, nun aber allmählich rekultivierte Heimatlandschaft. Das Fällen der Eiche als Sinnbild der Entwurzelung steht Manuelas Geburt als Sinnbild für den Neuanfang entgegen.

„Ziel ist es, das Leben zu erzählen und für die Nachwelt zu überliefern“, hat Kurt Tetzlaff im Weißenseer Kino gesagt – und sich gefreut über eine digitalisierte Fassung seiner auch der besonderen Farbgebung wegen mit dem „Findling“ genannten Preis der Filmclubs und dem „Klappe“ betitelten Preis der Filmjournalisten ausgezeichneten Dokumentation, die Paul Werner Wagner, Kurator der nd-Filmclub-Reihe im „Toni“, erstmals präsentieren konnte. Der 80-Minüter, das den Zensoren zum Opfer gefallene Restmaterial konnte bisher nicht aufgefunden werden, war am 3. Februar 1984 mit nur fünf Kopien lediglich in den Kinos der Bezirksfilmdirektionen Leipzig und Cottbus angelaufen und später republikweit vor allem in geschlossenen Veranstaltungen oder Sonderreihen der Filmclubs gezeigt worden.

Pitt Herrmann

Credits

All Credits

Duration:
2293 m
Format:
35mm
Video/Audio:
Orwocolor, Ton
Screening:

Uraufführung (DD): 20.11.1983, Leipzig, IFF;
Kinostart (DD): 03.02.1984

Titles

  • Originaltitel (DD) Erinnerung an eine Landschaft - für Manuela
  • Weiterer Titel (DD) Kohle

Versions

Original

Duration:
2293 m
Format:
35mm
Video/Audio:
Orwocolor, Ton
Screening:

Uraufführung (DD): 20.11.1983, Leipzig, IFF;
Kinostart (DD): 03.02.1984