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Ulf Miehe drehte sein Regiedebüt in Anlehnung an Theodor Storms Novelle "Ein Doppelgänger". Mitte des 19. Jahrhunderts sitzt John Hansen wegen eines Einbruchs mehrere Jahre im Zuchthaus Glückstadt ein. Nach der Haft kehrt er in seine kleine Heimatstadt an der Nordseeküste zurück, wo ihm nun der Name "Johnny Glückstadt" anhaftet und die Vergeblichkeit seiner Reintegrationsbemühungen markiert. Es gelingt ihm zwar, eine Familie zu gründen, doch die fortwährende Feindseligkeit der Stadtbewohner treibt ihn in den Alkohol und lässt ihn sein Glück zerstören: Während eines Streits schlägt er seine Frau Hanna nieder. Sie stirbt, und die gemeinsame Tochter kommt ins Waisenhaus. John entschließt sich, sein Kind zu entführen und nach Amerika zu fliehen.
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Zwar hat der Bürgermeister (der „Tätowierung“-, „Trotta“ und „Traumstadt“-Regisseur Johannes Schaaf) ein Auge auf John, verhindert handgreifliche Auseinandersetzungen mit sich für anständig haltenden Bürgern, sieht für die kleine, in großer Armut lebende Familie aber keine Zukunft in der Küstenstadt. Immer häufiger kommt es zum ausufernden Streit zwischen den Eheleuten. Als Hanna im verbalen Duell John seine kriminelle Vergangenheit vorwirft, eskaliert die Auseinandersetzung körperlich: Hanna fällt unglücklich und stirbt kurz darauf. Nachbar Tischler hat Mitleid mit dem erschütterten John und hilft ihm, den Vorfall zu vertuschen. Der nächste Schicksalsschlag lässt nicht lange auf sich warten: dem freilich überforderten Vater wird die Tochter weggenommen, Christine in ein kirchliches Waisenhaus gesteckt. John, schon seit geraumer Zeit vom Bürgermeister mit der Möglichkeit der Auswanderung nach Amerika vertraut gemacht, nimmt sich ein Beil und holt seine Tochter aus dem Kinderheim. Zusammen mit Christine will er jenseits des Großen Teichs ein von seiner Vergangenheit endlich unvorbelastetes Leben führen…
Theodor Storms späte Novelle „Ein Doppelgänger“ erschien Ende 1886 in sechs Heften der von Karl Emil Franzos gegründeten Zeitschrift „Deutsche Dichtung“ mit einer Rahmen- und einer Binnenhandlung. Wobei sich das Doppelgänger-Motiv auf die unterschiedliche Wahrnehmung der Titelfigur bezieht: Christine sieht in John Hansen bei allen Problemen mit jähzornigen Ausbrüchen vor allem den liebevollen Vater, die bürgerliche Gesellschaft dagegen in John Glückstadt nur den Armenhäusler und verurteilten Dieb. Der 35-jährige, in der Mark Brandenburg geborene Regisseur Ulf Miehe hat sich für sein Kinodebüt auf die Binnenhandlung beschränkt, der Sozialkritik breiteren Raum gewährt und den Schluss geändert: Bei Storm strauchelt der verzweifelte John und fällt in einen Brunnenschacht, weshalb der ursprüngliche Titel der Novelle auch „Der Brunnen“ lautete.
Bei Miehe und seinem Koautor Walter Fritzsche gibt’s einen Hoffnungsschimmer, was zu harscher Kritik führte. „Geplünderter Storm“ betitelte etwa die „Deutsche Zeitung“ am 8. August 1975 den Verriss von Eckhart Schmidt, der davon sprach, dass „mit dem Namen des Autors und seiner gutgläubigen Leserschaft spekulativ Schindluder getrieben wird“. Aus sozialistischer Sicht kommentierte Horst Knietsch in der populären DDR-Illustrierten „Filmspiegel“ (vom 30. Juli 1975) ironisch: „Moral: Kommst du mit deinen bürgerlichen Unterdrückern nicht zu Rande, geh in die Emigration.“ Und doch war es das Fernsehen der DDR, dass den in nüchternem Schwarz-Weiß gedrehten Film nach der Uraufführung im Wettbewerb der Berlinale und dem Kinostart am 22. August 1975 erstausstrahlte am 27. August 1977. Beim Deutschen Filmpreis 1975 gabs zwei Filmbänder in Gold für Peter Steins Schaubühnen-Protagonisten Dieter Laser (Darsteller) und Ulf Miehe (Nachwuchsregisseur).
Pitt Herrmann