Inhalt
Ein Tag und eine Nacht im Leben des Schauspielers Oscar, der in einer Stretchlimousine durch Paris chauffiert wird, von einem Gastspiel zum nächsten. Jedes Mal schlüpft er in eine neue Rolle, die Autofahrten dienen ihm dazu, sich in den jeweils geforderten Charakter zu verwandeln. So wird er vom Industriellen zum Killer, vom Bettler zum braven Familienvater. Ein eigenes Leben scheint er nicht zu haben. Oscar, so der Eindruck, existiert nur in der Welt seines Wagens und in Form der unterschiedlichen Figuren, die er verkörpert.
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Monsieur Oscar ist alleine, nur Céline begleitet ihn, die große Blonde hinter dem Steuer der riesigen Stretchlimousine, die ihn einen ganzen Tag und eine Nacht lang durch Paris und in die Vororte der französischen Hauptstadt kutschiert. Wie einen Profikiller, der von Auftrag zu Auftrag eilt. Oder einen Schutzgeld-Erpresser, der seine Kühe melkt. Sein Zuhause, seine Familie, die zumindest am Anfang nicht nur aus den beiden Schimpansen besteht, mit denen er am Ende zusammenzuleben scheint, bleiben im Dunkeln...
Der im Mai 2012 im Wettbewerb von Cannes uraufgeführte Streifen „Holy Motors“ beginnt mit einem Prolog, den der Autor und Regisseur Leos Carax selbst spielt: Die Kamera zeigt in der stummen Eingangssequenz, wie Besucher im Kino sich einen Film ansehen. Schnitt. Ein Mann wacht mit einem ihm offenbar unbekannten Hund in seinem Bett auf, zündet sich eine Zigarette an und versucht, in der mit einer Fototapete beklebten Wand eine Tapetentür zu öffnen. Während das Fotomotiv eine Waldlandschaft zeigt, wird diese surreale Szene mit Möwengeschrei und Tönen, wie wir sie aus einem belebten Hafen kennen, unterlegt.
Der Mann hat offenbar besagte Tür durchschritten, als er plötzlich, bekleidet mit seinem Pyjama, auf der Empore besagten Kinosaales steht. Durch dessen Reihen sich der Hund schleicht wie ein Tiger auf Beutesuche. Dann kommt ein Haus ins Bild, es könnte eine Villa Mies van der Rohes sein, durch deren Bullaugen an der Fassade ein Mädchen blickt. Deren Vater, es ist erneut Leo Carax, sich in einer Art Hochsicherheitstrakt abgeschottet hat. Und dann steigt Denis Lavant alias Monsieur Oscar so selbstverständlich zu Celine in die weiße Stretchlimousine, als sei alles nur ein Traum gewesen...
„Holy Motors“ beschreibt eine 24-stündige Odyssee im Alltag eines ungewöhnlichen Wesens, von dem man im Grunde gar nichts erfährt – während Monsieur Oscar in seinem luxuriösen Kostümfundus durch Paris gefahren wird und dabei recht geschäftsmäßig telefoniert, in Papieren kramt, mit dem Schminkköfferchen hantiert und sich routiniert mit falschen Bärten und Perücken in die unterschiedlichsten Personen verwandelt. In ein altes Mütterchen etwa oder eine scheinbar alterskrumm-gebückte Bettlerin. Dabei fungiert das aus abgedunkelten Hallen eines aufgelassenen Industriekomplexes geholte unschuldig-weiße Fahrzeug wie ein „Roter Faden“ in dieser episodischen Aneinanderreihung fortlaufender Metamorphosen des Protagonisten. Am Ende, wenn die Nobelkarossen von ihren Chauffeuren im Hof in Reih' und Glied abgestellt worden sind, unterhalten sie sich miteinander.
Denis Lavant verkörpert etwa einen für einen erotischen Pas de deux mit der Schlangenfrau Zlata im Motion-Capture-Verfahren virtuell gesteuerten Tänzer, dem scheinbar eine leuchtende Dornenkrone auf dem Haupt sitzt, mit der gleichen Hingabe wie den wahnsinnigen Monsieur Merde, der auf dem Friedhof Père Lachaise Blumen frisst und bei einem Fotoshooting das Model Kay M. in die Pariser Kanalisation entführt, wo er sich zunächst wie ein geiler Faun geriert um dann die offenherzige Schöne in eine vollverschleierte Muslima zu verwandeln.
Monsieur Oscars Identitäten, welche er akkurat in eine Kladde einträgt, entstammen unterschiedlichsten Milieus, sie alle vereint jedoch das gleiche Schicksal: Sie sind vom Aussterben bedroht – einsame Sklaven in einer virtuellen Welt, in der mehr und mehr die gelebten Erfahrungen und logischen Zusammenhänge genauso wie die sichtbaren Maschinen (und Maschinerien) verschwinden. Dieses undurchschaubare und dabei so gut wie sprachlose Geflecht, minutenlang sind nur Alltagsgeräusche zu hören, lässt den Zuschauer in eine pittoreske Traumwelt eintauchen - und das hochspannende 115 Minuten lang, wenn man das anfängliche Fremdeln überwunden und sich auf Leos Carax, der in den 1980er Jahren einmal als Frankreichs Kino-Wunderkind („Poetischer Realismus“) gehandelt wurde, eingelassen hat.
Cineasten und sachkundige Kritiker können sich „Holy Motors“ mit Gewinn gleich mehrfach ansehen, denn bei jedem Durchlauf erkennt man weitere Bezüge zur Filmgeschichte, von Eadweard Muybridges frühen Bewegungsstudien circensisch anmutender Athleten den 1870er Jahren bis hin zum Mann mit dem Akkordeon, einem ironisch verfremdeten Selbstzitat aus seinem 1991er Erfolg „Die Liebenden von Pont-Neuf“. Wie ja auch die Besetzung etwa mit den beiden französischen Leinwand-Legenden Michel Piccoli, der den „Mann mit dem Weinfleck“ von Oscars Agentur gibt, und Edith Scob Erinnerungen an legendäre Kino-Momente weckt, bei letzterer vor allem an Filme von Georges Franju (mit Gesichtsmaske in „Augen ohne Gesicht“).
Apropos Besetzung. In Leos Carax' erstem Kinofilm nach dreizehn Jahren spielt Kylie Minogue mit Eva Grace und Jean nicht nur gleich zwei Rollen, sondern singt auch noch zu Denis Lavants Akkordeon in der Ruine des einst glanzvollen, im schwelgerischen Art nouveau errichteten Lafayette-Kaufhaus-Konkurrenten La Samaritaine am Ende der Pont-Neuf, beziehungsreich versteht sich: „Who were we?“ Gedreht wird übrigens mit subjektiven Kameras – und die fangen dolle Sehnsuchtsbilder aus der Seine-Metropole und ihren Locations abseits des touristischen Mainstreams ein.
Pitt Herrmann