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Jugendliche aus einem Kinderheim in Mecklenburg berichten von prekären Familienverhältnissen und häuslicher Gewalt. Viele sind Kinder von alkoholkranken Eltern, und manche von ihnen sind selbst gefährdet. Offen sprechen sie über das, was hinter ihnen liegt, und über ihre Hoffnung auf ein schöneres Leben. Der Film zeigt die Jungen und Mädchen in der Gemeinschaft und bei der Suche nach persönlichem Freiraum. Mit einer Party zum Beginn der Sommerferien endet nicht nur das Schuljahr – ein ganzer Jahrgang nimmt Abschied vom Heim. Der Film konnte erst 1990 nach der Wende uraufgeführt werden.
Quelle: 69. Internationale Filmfestspiele Berlin (Katalog)
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Ein trauriges kleines Mädchen zeigt Fotos aus der Zeit ihrer noch intakten Familie. Sie lässt nichts auf Mutti und Vati kommen, bevor die Erinnerungen an bessere Zeiten wieder in der Nachttisch-Schublade verschwinden. Ältere Jungen sprechen dagegen ganz offen über die Gewalt- und Alkoholprobleme ihrer Eltern – und darüber, inzwischen selbst rowdyhaftes Verhalten an den Tag zu legen. Einer plaudert aus, dass er vom „Nervenarzt“ gelbe Pillen erhält, wenn er wieder einmal den Unterricht gestört hat oder nachts nicht schlafen kann.
Mentin ist für die Kinder und Jugendlichen ein geschützter Ort. Julia Kunert und Thomas Plenert zeigen ein quirliges Gruppenleben um die Tischtennis-Platte im Eingangsfoyer oder draußen an der frischen Luft, beim Essen im Speisesaal oder dem kollektiven Waschen und Baden. Natürlich kommt es auch zu Reibereien untereinander, aber besonders die Älteren, deren Tattoos auch Eiserne Kreuze und US-Symbole zeigen, verfügen im Gespräch mit Petra Tschörtner über ein erstaunliches Maß an Selbsterkenntnis. Am Ende wird noch einmal zusammen gefeiert zur Musik vom Plattenteller und Cassettendeck: das Schuljahr ist zu Ende, die Abgänger werden in eine ungewisse Freiheit entlassen, der Rest fährt in die Ferien zu den Familien oder ins staatliche Ferienlager.
Von 1949 bis 1990 waren in der DDR rund 500.000 Kinder und Jugendliche in Heimen der Jugendhilfe untergebracht, davon 135.000 in Spezialeinrichtungen wie den skandalträchtigen Jugendwerkhöfen. Was für das Berliner Defa-Studio für Dokumentarfilme ein Thema hätte sein können, siedelten Angelika Andrees und Petra Tschörtner unter Produktionsleiter Manfred Renger bewusst im Babelsberger Spielfilm-Studio an: ein knapp 26-minütiger Kurz-Dokumentarfilm über das Gutshaus Mentin in der mecklenburgisch-vorpommerschen Gemeinde Suckow, das zwischen 1945 und 1996 als Kinderheim diente.
Denn „Heim“ war gedacht als dokumentarischer Vorfilm zu Roland Gräfs fiktionalem Streifen „P.S.“, der 1979 in die Kinos kam: die Geschichte des vom jungen Warschauer Schauspieler Andrzej Pieczynski verkörperten 18-jährigen Peter Seidel, der aus einem Erziehungsheim in die noch ungewohnte Freiheit entlassen wird. Das „Waisenkind“, dessen Vater im Osten spurlos verschwunden dessen Mutter in den Westen abgehauen ist, hat es in der dörflichen Idylle der DDR-Provinz nicht schlecht gehabt, muss sich nun aber auf eigenen Füßen stehend in der Hauptstadt Berlin zurechtfinden.
Dass der Defa-Generaldirektor Hans-Dieter Mäde, seinerzeit Kandidat und ab 1981 Mitglied des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, die vergleichsweise kritischere Kurz-Doku noch vor der Fertigstellung 1978 verbot, ist keine Überraschung: die von Petra Tschörtner interviewten Kinder und Jugendlichen berichten zu offen über Gewalt und Alkoholprobleme in ihren Familien und davon, dass sich solche Erfahrungen tradieren. So konnte „Heim“ erst nach der Wende, am 30. Januar 1990, im Berliner „Arsenal“ am Potsdamer Platz uraufgeführt werden. Zur Berlinale-Retrospektive „Selbstbestimmt“ 2019 digitalisiert hat Tobias Fritzsch etwa für die Party zum Abschluss des Schuljahres eine neue Musik komponiert, weil die bei den Heimkindern favorisierte West-Mucke von Abba & Co aus urheberrechtlichen Gründen aus der Tonspur geschnitten werden musste.
Pitt Herrmann