Summary
The Children of Korntal
The film addresses one of the largest abuse scandals in the Protestant Church in Germany. From the 1950s onward, hundreds of children were mistreated, forced into labor, and became victims of sexual violence in the homes of the Pietist Brethren community in Korntal, a small town in Baden-Württemberg. The scandal only became public in 2013, after which over 150 former residents of the homes broke their silence, leading to the identification of more than 80 perpetrators. Initially, the community reacted with skepticism and rejection, but the pressure for accountability increased. Although a process of reappraisal was initiated, many survivors criticize the methods and compensation amounts as inadequate, feeling that the process itself represents a new form of abuse. They continue to fight for recognition and to be heard.
Comments
You have seen this movie? We are looking forward to your comment!
Login or register now to write a comment.
Und das stand am 20. September 2023 in der „Stuttgarter Zeitung“: „Seit neun Jahren setzt sich Detlev Zander für ehemalige Heimkinder ein, die in den Jahren 1950 bis 1970 Gewalt in den Einrichtungen der evangelischen Brüdergemeinde erlitten. Was die Gemeinde bisher gezahlt habe, sei nicht ausreichend, sagt er.“ Zander, Mitbegründer einer Selbsthilfegruppe und zentraler Protagonist in Julia Charakters Dokumentation, wartet auf dem Bahnhof von Münchingen auf seinen Zug. „Wir waren Menschenmüll, wir waren nichts wert“: 1964 war er hierher gekommen, in eine „harte, kalte, stark religiöse Atmosphäre“.
„Sind so kleine Hände“: Bettina Wegners Lied „Kinder“ rahmt eine schier unfassbare Geschichte, die seit den 1950er Jahren in einer beschaulichen, pietistisch geprägten Kleinstadt in Baden-Württemberg mit gerade einmal 9.000 Einwohnern spielt. Korntal ist der Schauplatz eines der größten Missbrauchsskandale der Evangelischen Kirche in Deutschland an Waisenkindern und sog. „Sozialwaisen“, deren Angehörige sich nicht um sie kümmern können oder wollen.
Angelika Bandle, deren Mutter obdachlos war und als Prostituierte arbeitete, kam mit ihren drei Geschwistern als psychisch gestörte Bettnässerin nach Korntal: Sie durfte wie alle anderen Kinder nachts nicht auf die Toilette. Wie auch Martin Poferl, der noch bis 1977 mit einem hölzernen Kleiderbügel geschlagen wurde, spricht sie über körperliche und seelische Misshandlungen. Und Thomas Mockler, zusammen mit vier Geschwistern im Diakonie-Heim, beklagt, dass alle Beschwerden gegen erfahrene Gewalt bei der Kirchengemeinde fruchtlos geblieben sind.
Andreas Schönberger, ein Einwohner Korntals, bestätigt das „Schweigekartell“ in der Kirchengemeinde. Bis alles Leugnen nichts mehr fruchtete: 150 ehemalige Heimkinder haben ihr Schweigen gebrochen, sodass mehr als 80 Täter ermittelt werden konnten, darunter der langjährige Pfarrer Grünzweig und der Hausmeister Fritz Merkle, der das Grab eines seiner Opfer selbst ausgehoben hat auf dem Friedhof, aber auch Schullehrer, Heimschwestern und sogar ein Kinderarzt.
In ihrem Langfilm-Debüt gibt die Kölner Regisseurin, Drehbuchautorin und Dramaturgin Julia Charakter, die 1984 in Zhytomyr/Ukraine geboren wurde und in Dorsten aufgewachsen ist, auch Vertretern der Brüdergemeinde ausführlich Raum zu Stellungnahmen, die in ihrer verschwurbelten Diktion für sich sprechen und keines Kommentars bedürfen. So spricht Jochen Hägele, zwischen 2010 und 2022 Pfarrer und geistlicher Vorsteher der Gemeinde, nur von der notwendigen – und im Übrigen christlichen – Vergebung und verschweigt, dass die jüngsten, bis in die 2000er Jahre reichenden Missbrauchsfälle noch gar nicht aufgearbeitet sind.
Und Klaus Andersen, von 2011 bis 2021 weltlicher Leiter in Korntal, thematisiert lediglich die als viel zu hoch empfundenen Entschädigungs-Forderungen der Opfer: Die Gemeinde, die keine Kirchensteuer erhalte, könne die verlangten Summen gar nicht aufbringen. Bezeichnend ist, dass die in die Aufklärung der Vorfälle eingebundene Juristin und ehemalige Frankfurter Jugendrichterin Dr. Brigitte Baums-Stammberger nur aus Sicht der Brüdergemeinde argumentiert. Den Vogel schießt freilich das der Gemeinde angehörende Ehepaar Schweizer ab: Nach so vielen Jahren sollte man den Skandal, der aus ihrer Sicht gar keiner ist, endlich zu den Akten legen.
Julia Charakter gibt sechs Betroffenen Raum, ihre Geschichten zu erzählen und zu sagen, was der Aufklärungsbericht ihrer Meinung nach verschweigt. Darunter mit Rita und Rosemarie zwei Heimbewohnerinnen, die anonym bleiben wollen, weshalb ihre mit Animationen bebilderten Wortbeiträge nachgesprochen werden. Überhaupt fällt ein beinahe genereller Voiceover-Gebrauch auf. Und das Bekenntnis Detlev Zanders zum christlichen Glauben, für deren Ausübung er freilich keine Kirche benötigt – und die evangelische Brüdergemeinde schon gar nicht. Nach der Uraufführung in Leipzig gabs den Defa-Förderpreis.
Pitt Herrmann