Olaf Jelinski, Lichtspieltheater Wundervoll (Rostock)

Das Gefühl Film

Natürlich bin ich  empfänglich  für die altbewährte Theaterfestlichkeit: das einladende Portal, messingglänzendes Foyer, Kronleuchter, schwere Teppiche und einen majestätisch wallenden Vorhang. Bitte schön, diese Variante gibt es als Original kaum noch und gelingt in Kinoneubauten nie überzeugend. So entscheide ich mich lieber für die Vorzüge intelligent und   funktional umgenutzter Industriearchitektur. Aber erstens haben wir im "Lichtspieltheater Wundervoll" sowieso kein Geld für Investitionen dieser Größenordnung und zweitens geht mit dem Film das Licht aus, und bis auf den freien Blick auf die Leinwand, mit Glück auch auf alle Untertitel, und die Vorzüge gepolsterter Kinosessel ist von der ganzen Pracht nichts mehr zu spüren.

 
Quelle: Lichtspieltheater Wundervoll
Lichtspieltheater Wundervoll, Rostock
 

Es scheint also um wesentlichere Fragen zu gehen. Zum Beispiel, ob Popcorn stinkt. Wenn’s stinkt, gehört es nämlich verboten. Oder: Haben Sie schon mal im Kino geknutscht? Locker im Bekanntenkreis umhergefragt, schieden sich die Antwortenden in zwei Gruppen. Jene, die diese Frage ganz absonderlich fanden und spontan preisgaben: Ja, in der ersten Woche nach dem Kennenlernen verabredeten wir uns zu mindestens einem Kinobesuch. Und solche, die sofort entrüstet verneinten oder schamvoll zugaben, dies hätten sie auch einmal gemacht. Ist Kino nun der Ort sinnlicher Genüsse oder weihevoller Ernsthaftigkeit? Sie sehen, ob der Komplexität des Phänomens häufen sich die Fragen zusehends. Was war Ihr erstes Erlebnis Kino? Bei mir fehlt erstaunlicherweise komplett die Erfahrung Kinderfilm auf der Leinwand. Vielleicht gab es den nicht im Kino meines Heimatstädtchens, oder – wahrscheinlicher – meine Eltern hatten dazu keine Lust. Heutzutage wäre das beim Blick auf das aktuelle Kinderfilmangebot eine nur zu verständliche Haltung.

Quelle: Lichtspieltheater Wundervoll
Kinosaal des Lichtspieltheaters Wundervoll
 

So reicht meine erste Kinoerinnerung nur ins frühe Jugendalter zurück und ist ganz fest geknüpft nicht an einen konkreten Film, sondern an das Gefühl, durch die laue Sommerluft der Straßen noch ganz in Filmhelden und Musik eingewoben nach Hause zu radeln. Übrigens empfinde ich die Intensität dieses Gefühls noch immer als Gradmesser für die Qualität eines Films. Dass es sich jetzt eher selten einstellt, hat mit einem selbst zu tun. Bestimmt kennen Sie die leichte Peinlichkeit beim Wiedersehen manchen Films, von dem Sie als Teenager begeistert waren. Welche Filme sollten also laufen in meinem Wunschkino? Na die guten! Genau besehen handelt es sich um eine sehr tückische Frage, die allmonatlich bei der Vorbereitung des eigenen Programms steht. Unterschwellig schwingt in ihr die Vorstellung, der Spielplan sähe ganz anders aus, wären da nicht die wirtschaftlichen Zwänge. Ist das wirklich so? Meine Kollegen, die ihre Häuser ohne Unterstützung der öffentlichen Hand häufig in permanenter Existenznot führen, dürfen an dieser Stelle berechtigterweise bemerken: "Gut gebrüllt!" Das deutet einen Diskurs an: Wie gestaltet sich das Verhältnis von Wirtschaft und Kultur im Produkt Film und in der Institution Kino, und welche politischen Schlussfolgerungen sollten daraus gezogen werden? An dem außerordentlich schön formulierten Satz merken Sie, dass ich jetzt das Thema wechsle. Im Laufe der Zeit habe ich eine literarische Gattung entdeckt: den Kinospielplan. Formal pendelt er zwischen zwei Polen, der Informationspostille und der filmtheoretischen Abhandlung. Der Kinospielplan kann Ehrfurcht und Staunen verursachen und durchaus ein Eigenleben entwickeln. Und er gibt ein Bindeglied zum Publikum. Womit auch der entscheidende Unterschied zwischen Kino und DVD-Sammlung genannt ist. Wir machen Kino für ein Publikum. Insofern kann es auch gar nicht das ideale Kino geben. Wir müssen es immer finden und erfinden für die Leute, die zu uns kommen und kommen sollen.

Quelle: Lichtspieltheater Wundervoll
Jubiläumsplakat zum zehnjährigen Bestehen
 

Speziell auf unser kleines Haus bezogen bin ich mir eines Privilegs bewusst, das ich in der Arbeit nicht missen möchte. Es geht um die intime, fast familiäre Atmosphäre – man kennt einander. Ganz häufig widerfährt mir mit unseren Gästen folgende sonderbare Geschichte: Ich stehe an der Kinokasse. Es kommt jemand meist ganz eilig kurz bevor der Film beginnt. Sie oder er kauft eine Karte, biegt um die Ecke zum Saal und sagt noch schnell zu mir: "Tschüß." Darüber kann ich mich nicht genug wundern und finde es sehr schön. Warum wird man Kinobetreiber? Also, diese Frage geht nun wirklich zu weit! Seit Jahren geistert mir dazu ein Motto durch den Kopf: Eigentlich gehe ich viel lieber ins Kino, als selber eines zu betreiben. Solange das so bleibt, werde ich meinen Job wohl weitermachen.

Olaf Jelinski ist Geschäftsführer des Vereins Ro-cine e.V., der seit 12 Jahren in Rostock das nichtgewerbliche Kino "li.wu. – Lichtspieltheater Wundervoll" betreibt.